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Winters Knochen

Winters Knochen

Titel: Winters Knochen
Autoren: D Woodrell
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Angst um sie.
    »Los«, sagte sie. »Nehmt eure Schultaschen und geht runter zur Straße, damit ihr den Bus kriegt. Und setzt eure Mützen auf.«

ERST FIEL DER SCHNEE in harten kleinen Körnern, frostig weiße Kugeln, die Ree seitlich ins Gesicht schlugen, während sie die Axt hob, niedersausen ließ und wieder hob, Holz spaltete, während sie von der Kälte gebissen wurde, die aus dem Himmel fiel. Einzelne Brocken fielen ihr in den Halsausschnitt und schmolzen auf ihrer Brust. Ree hatte schulterlanges Haar, unbezähmbare Locken, in denen sich die Schneeflocken fingen. Ihr Mantel war tiefschwarz und hatte ihrer Großmutter gehört, grimmige alte Wolle, geschunden von strengen Wintern und Sommermotten. Der knopflose Mantel reichte ihr bis über die Knie unterhalb ihres Kleides, aber er schlug auf und behinderte sie nicht bei der Arbeit. Ihre Schwünge waren geübt und kräftig, kurze mächtige Schläge. Splitter flogen, Holz wurde gespalten, der Stapel wuchs. Ree lief die Nase, das Blut stieg ihr ins Gesicht und färbte ihre Wangen rosig. Sie packte ihre Nase mit zwei Fingern, schnäuzte zu Boden, wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht, schwang wieder die Axt.
    Als der Holzstapel hoch genug war, setzte sich Ree darauf. Sie saß da, zog die Beine eng an den Körper, spreizte ihre in Stiefeln steckenden Füße, zog einen Kopfhörer aus der Tasche, setzte ihn sich auf die Ohren und schaltete
Sanftes Meeresrauschen zur Entspannung
ein. EisigerSchnee sammelte sich in ihrem Haar und auf den Schultern, und sie drehte das Rauschen lauter. Ree musste sich häufig angenehme Klänge injizieren, musste mit diesen Klängen den ständig kreischenden, schreienden Wirrwarr durchstechen, den der Alltag in ihrer Seele auslöste, musste die besänftigenden Klänge an diesem Lärm vorbeilotsen bis tief hinunter, wo ihre zapplige, aufgeregte und endlos genervte Seele, die nach etwas verlangte, das ihr vielleicht einen Augenblick Ruhe brachte, in einer kalten Steinkammer auf und ab tigerte. Die Kassetten hatte ihre Mom bekommen, die schon zu viele verwirrende Geräusche wahrgenommen hatte und sich nicht auch noch mit diesen auseinandersetzen wollte. Deshalb hatte Ree sie ausprobiert und gespürt, wie sich ein Knoten löste. Sie mochte auch
Sanftes Bachrauschen zur Entspannung, Morgendämmerung in den Tropen
und
Abend in den Bergen
.
    Die Eiskörner ließen mit dem Wind nach, und große Schneeflocken fielen so ruhig zu Boden, wie nur überhaupt etwas vom Himmel herabfallen konnte. Ree lauschte den Wellen an fernen Stränden, während sich die Schneeflocken auf ihr sammelten. Reglos saß sie da und ließ den Schnee ihre Umrisse in das immer dichter werdende Weiß zeichnen. Das Tal schien im Dämmerlicht zu liegen, dabei war noch nicht einmal Mittag. Die drei Häuser jenseits des Bachs legten einen weißen Schal um, aus den Fenstern blinzelten goldene Lichter. Noch immer hing das Fleisch an den Ästen. Wellen seufzten an den Strand, während sich auf alles, was Ree sehen konnte, Schnee legte.
    Scheinwerfer kamen die Fahrspur entlang ins Tal. Ree spürte, wie ihr Herz plötzlich vor Hoffnung zu hüpfen begann, und stand auf. Der Wagen musste hierher kommen, wo die Straße endete. Sie zog den Kopfhörer um den Hals und rutschte den Hang zur Straße hinunter, wobei ihre Stiefel Spuren im Schnee hinterließen. Unten am Hang fiel sie auf ihren Hintern, hockte sich dann auf die Knie und sah, dass es das Gesetz war. Hinten im Dienstwagen des Sheriffs lugten zwei kleine Köpfe von der Rückbank.
    Ree kniete unter kahlen Walnussbäumen, sah zu, wie der Wagen lange Narben in den frischen Schnee riss, herankam und stehen blieb. Sie stand auf und eilte mit festen Schritten um die Motorhaube herum zur Fahrertür. Als die Tür aufging, beugte sie sich vor und sagte: »Sie haben nichts gemacht! Sie können gar nichts gemacht haben! Was zum Teufel wollen Sie?«
    Eine der hinteren Türen ging auf und die Jungs stiegen lachend aus, bis sie Rees Stimme hörten und ihre Miene sahen. Die Fröhlichkeit wich aus ihren Gesichtern, sie verstummten. Der Deputy stieg aus, hob die Hände und schüttelte den Kopf.
    »Immer mit der Ruhe, Mädchen. Ich habe sie nur von der Bushaltestelle mit raufgenommen. Bei dem Schnee fällt die Schule aus. Ich habe sie nur mitfahren lassen, das ist alles.«
    Ree spürte, wie ihr das Blut in Hals und Wangen stieg, doch sie drehte sich zu den Jungs um und stemmte die Hände in die Hüften.
    »Ihr braucht euch nicht von der Polizei
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