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Winters Knochen

Winters Knochen

Titel: Winters Knochen
Autoren: D Woodrell
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Jetzt ging Mom nur noch selten weiter als bis zur Küche und tanzte nie. Am Morgen stellte sich Ree ihrem Kater und machte sich übellaunig an die Pflichten eines wackligen Tages, und über eine Stunde lang kauerte sie vor dem großen Flurschrank, zog staubige, eingerissene Kartons voll mit vergessenem Familienstrandgut hervor und warf alles weg, bis sie auf einen vergilbten Umschlag mit Fotos stieß. Sie breitete die Fotos auf dem Boden aus, und die Jungs beugten sich darüber, hoben jedes Bild hoch, um es näher betrachten zu können, und ließen ein Foto nach dem anderen wieder fallen. Mom in einem gestreiften Rock, der hochwirbelt, als sie in Dads Armen liegt, Mom an einem Tisch voller Bierflaschen und ausgedrückter Zigaretten auf Dads Schoß. Mom, wie sie auf Zehenspitzen auf dem Küchenboden Pirouetten dreht und dabei ein volles Schnapsglas über den Kopf hält. Mom in Farbe, wie sie bei einer von Onkel Jacks Hochzeiten einen Kranz aus geflochtenen Blumen trägt, wie sie auf der Veranda steht, strahlend, herausgeputzt für den Abend, in einem roten Kleid, einem blauen Kleid, einem grünen Kleid, einem schwarzen Mantel, der glänzt wieSonntagsschuhe. Stets sind ihre Lippen geschminkt, und sie lächelt.
    »Sie war ganz anders als heute«, erklärte Ree.
    »Schön«, sagte Harold. »Sie war so schön.«
    »Sie ist immer noch schön.«
    »Nicht wie damals.«
    »Und die Männer mit ihr, das ist alles Dad.«
    »Ehrlich?« fragte Sonny. »Alle? Das ist Dad? Dad hatte solche Haare?«
    »Ja. Die meisten sind ausgefallen, als er weg war. Du kannst dich daran nicht mehr erinnern.«
    »Nein, nicht an so viele Haare.«
    Die traurige Aufgabe des Tages bestand darin, das Haus aufzuräumen, Schränke und Kriechböden durchzugehen, vergessene Schachteln und Tüten ans Licht zu zerren und zu entscheiden, welcher Krempel behalten und welcher auf dem Hof verbrannt werden sollte. Seit fast einem Jahrhundert lebten die Bromonts in diesem Haus, und einige der alten Schachteln in den entlegenen Winkeln waren schon zerfallen. Viele der Papiere zerbröselten Ree zwischen den Fingern, als sie sie aufschlagen und lesen wollte. Es gab eine Schmuckschatulle aus rotem Samt, die von Mäusen zernagt worden war, Ree öffnete sie und fand darin Murmeln, einen Fingerhut und eine Karte zum Valentinstag, die Tante Bernadette erhalten hatte, als sie in der dritten Klasse war. Die Liebesgrüße waren mit großen Wachsmalbuchstaben geschrieben. Ree fand Schuhe ohne Absätze, faltig gelaufen von Verwandten, die längst verstorben waren, bevor sie sie hättekennenlernen können. Ein großes verbogenes Messer mit angelaufener Klinge. Eine zerbrechliche weiße Schale mit Schrothülsen aus Papier, eine Handvoll Schlüssel zu weiß Gott welchen Türen. Strohhüte, von denen sich die Krempe gelöst hatte.
    »Tragt das zum Müllfass und macht Feuer. Dann kommt zurück, es gibt noch mehr.«
    Unter der Treppe fand Ree mehrere zerschundene Werkzeuge, Axtblätter, Sägeblätter, Ahlen und Hammerstiele, von Spinnweben überzogene Einmachgläser mit uralten vierkantigen Nägeln, Unterlegscheiben und verbogenen Bohrstiften. Schulbücher mit Moms Namen, mit Bleistift in die Innenseite geschrieben. Ein Nachttopf aus gesprungenem Porzellan. Eine verrostete Brotdose, auf der
Howdy Doody!
stand, daneben klein und mit rotem Nagellack
Jack
.
    Mom saß in ihrem Schaukelstuhl, und Ree fragte: »Was passt dir noch von deinen Sachen?«
    »Diese Schuhe.«
    »Aus deinem Schrank, meine ich.«
    »Ein paar Sachen haben nie gepasst.«
    Moms Schrank war ein ungeheures Durcheinander von Kleidungsstücken, dazu noch alte Sachen von Großmutter und Bernadette. Mom und Großmutter waren beide der Ansicht gewesen, dass man alles aufheben müsse, was vielleicht eines Tages von jemandem in der Familie getragen werden konnte oder vielleicht einen anderen, noch unbekannten Nutzen haben mochte. Großmutter war in ihren letzten Jahren ziemlich auseinandergegangen,Bernadette war klein und dürr, Mom groß und schlank. Nicht viel, was jemals jemand anderem passen konnte. Trotzdem war der Schrank vollgestopft mit Kleidung für später, und daran hatte sich nie etwas geändert. Staub lag auf den Schultern von Kleidern und Blusen.
    Ree rief die Jungs in Moms Zimmer, und beide kamen zu ihr. Sie hatten ein großes, prasselndes Feuer auf dem Hof entzündet und freuten sich, es mit dem ganzen Bromontplunder zu füttern. Ein Kreis aus Schmelzwasser bildete sich rings um das rostige Fass. Vögel saßen
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