Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Winterreise

Winterreise

Titel: Winterreise
Autoren: Gerhard Roth
Vom Netzwerk:
Wiederholung. Das Leben war ein Dahinleben, so wie die Erde nichts Besonderes war im Universum, eine Belanglosigkeit. Er fuhr in der Eisenbahn und bemerkte, daß er über die Erde dachte, wie über ein fremdes Gestirn, dem man aus der Unendlichkeit des Raumes nicht ansehen konnte, daß Menschen es bewohnten, als lebte er selbst nicht auf ihm, sondern außerhalb. Er hatte das Gefühl, als sei er aus der Erde gefallen. Es war ein ozeanisches Gefühl voller Einsamkeit. Vielleicht war seine innere Bewegung etwas, wofür er sich schämen mußte, etwas, was er sich leistete. Für seinen Großvater war das Überleben der Sinn seines Daseins gewesen, während für ihn der Sinn eine Frage des Überlebens wurde. Von weitem, im tiefschwarzen Meer, sah er die blaue Erdkugel, die seinen Alltag mit sich trug. Es war ihm, als hätte er nichts mehr damit zu tun. Der Gendarm saß vielleicht mit blutender Hand in seinem Badezimmer. Da war kein Unterschied zwischen dem Gendarmen und ihm. Nur Zufälle trennten sie.
     
    Der Zug hielt vor einem Bahnhof mit schmiedeeisernen Säulen auf dem Perron und dem Stationsgebäude, das im Sommer von wildem Wein bewachsen war. Unter der Uhr mit den verschnörkelten Ziffern stand der Bahnhofsvorstand mit der roten Kappe und pfiff den Zug ab. Es war still, nur die Pendeltür zum Warteraum machte ein Geräusch, als ein Reisender, der neugierig herausgetreten war, wieder im Warteraum verschwand. Was er sah, war der Alltag, in dem es nur das Naheliegendste und kleine Ansprüche gab. »Aber das war ja das Falsche«, dachte er, »daß ich im Alltag nie über das Naheliegendste hinausgekommen bin.« Der Alltag war, daß er dauernd dabeigewesen war, seine Gedanken und politischen Ansichten zu unterdrücken, nur weil es notwendig gewesen war, dies für den Direktor oder den Schulinspektor zu tun, daß er den Kindern ein Leben mit Werten beizubringen hatte, obwohl er wußte, daß ein Leben mit Werten etwas Radikales, daß es ein Leben mit der Wahrheit sein mußte. Er spürte eine Lust am Widerstand. Der Gedanke aufzubegehren ließ ihn sich plötzlich stark fühlen. Er wußte, daß dieses Gefühl vergehen würde, und wollte inzwischen an etwas anderes denken, um es lange in sich zu fühlen. Langsam setzte sich der Zug in Bewegung. Nagl stand auf und sah die wie unbewohnt daliegenden Bauernhäuser mit zugezogenen Vorhängen und ein weites Schneefeld, auf dem ein Mann mit einem Feldstecher eine Schar Krähen beobachtete, die aufgeflogen war, als die Eisenbahn sich genähert hatte. Nagl wollte die Landschaft nicht mehr sehen, weil sie ihn daran erinnerte, worüber er immer hinweggegangen war. Er schaute die Fensterscheibe an, sah aber sich selbst darin gespiegelt, durchsichtig und schemenhaft, daß es ihm vorkam, sein Ich vor sich zu haben, das er bisher gelebt hatte. Die Landschaft fuhr durch ihn hindurch, kahle Bäume, die Hochspannungsmasten, vereinzelte Heustadel, ein Fluß. Draußen, die Welt war ausgestorben, es gab den Mythos der Arbeit nicht mehr, der Arbeit, die voller Zwänge war, die ihn im Grunde immer erniedrigt hatte, die nichts mit seinen Wünschen, seinen Gedanken, seiner Phantasie und seinen Träumen zu tun hatte. Mit Verwunderung stellte er fest, daß seine einzige Hoffnung das Alter, die einzige Erlösung der Gedanke an die Pensionierung gewesen war, wenn er sich nicht mehr Monat für Monat von einer drohenden Verschuldung freikaufen mußte für die einfachsten Lebensnotwendigkeiten: Ein Dach über dem Kopf, Essen und eigene Gedanken. Er setzte sich zurück und empfand es plötzlich als einen großen Trost, aus der Erde gefallen zu sein. Er war nicht mehr ein Opfer von Opfern. Er sah den Gendarmen im Badezimmer vor sich, wie das Blut aus seiner Hand lief. Es war ihm, als hätte sich der Gendarm auf jeden Fall in die Hand geschossen. Dann dachte er an die niedrig fliegenden Wolkenströme, an die Kinder, die beim Begräbnis unter ihnen hergelaufen waren, dann sah er wieder die Weltkugel von außen, bedeckt von weißen Wolkenwirbeln, ein blauleuchtender Planet von so großer Schönheit, als verkörpere er in der Todesstille des Weltraumes den Sinn und das Überleben zugleich.
3
    »Ich habe mich gefragt, weshalb ich so kopflos mit dir fahre, und ich frage mich, weshalb mir alles so selbstverständlich vorkommt«, sagte Anna.
    Ihr Blick fiel auf den Speisewagenkellner, der in seiner weißen Jacke wie ein erschrockener Vogel aufschaute, wenn ein Glas klirrte, als würden mit dem Klirren eines Glases
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher