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Winterreise

Winterreise

Titel: Winterreise
Autoren: Gerhard Roth
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Bestellungen angekündigt. Sie saß Nagl gegenüber und sah jung und neugierig aus. Nagl hatte ihr zuerst von der Weltkugel erzählen wollen, aber dann geschwiegen. »Ich hatte es dir immer schon sagen wollen, aber ich hatte Angst, dich zu verlieren. Aus dieser Angst habe ich es wieder getan. Auf einmal hast du mich danach gefragt und nicht mehr lockergelassen«, sagte sie nach einer Pause. »Ich habe gespürt, daß du mich angelogen hast. Ich wollte nicht mehr belogen werden. Aber gleichzeitig wollte ich, daß ich mich getäuscht hätte.« Er entblößte sich, um sich zu befreien. Er hatte nicht mehr den Wunsch, ihr überlegen vorzukommen, wie immer, wenn er mit einer Frau zu tun gehabt hatte, obwohl es ihn immer wieder überrascht hatte, daß er überlegen wirken konnte. »Ich glaube, es war eher ein Verlangen zu erfahren, daß alles nicht wahr war, daß ich mich täuschte«, setzte er fort. »Aber es war auch ein hartnäckiger Drang, alles von dir zu erfahren, den ich inzwischen verloren habe.«
    »Du hast ganz sicher gewirkt, als ob du etwas wüßtest«, sagte Anna erstaunt. Die Gläser und die Weinflasche stießen klirrend aneinander. »Das einzige, woran ich mich gehalten habe, war, wie du geantwortet hast. Wie du zuerst meine Fragen abtun wolltest, wie du dich mit gespieltem Leichtsinn der Wahrheit genähert hast, als sei in Wirklichkeit nichts geschehen. Dann wurden deine Sätze immer vorsichtiger und einfältiger, bis du nur noch nein gesagt und zur Decke geschaut hast. Dabei hast du ein beleidigtes Gesicht gemacht, um mich einzuschüchtern. Du hast dich auch nicht mehr bewegt, weil dich die Bewegungen schon verraten hätten. Du warst so weit, daß du dich mit allem verraten hättest: Mit jedem Vorwurf, jedem Gekränktsein über mein Mißtrauen, mit jeder Barschheit, mit der du mir die Lächerlichkeit meiner Vorwürfe zeigen wolltest. Auf einmal wußte ich, daß mein Verdacht stimmte. Es tat mir so weh, daß ich mir wünschte, du könntest mich überzeugen, daß ich mir alles nur einbildete. Aber andererseits war etwas in mir, das es nicht ertrug, belogen zu werden. Dabei fing ich an, dich zu begehren. Gerade diese Verletzung hatte mich seltsamerweise so erregt, daß ich unbedingt mit dir schlafen wollte. Ich wollte dir das nie sagen.« Der Speisewagen mit den weißen Tischtüchern, den zusammengefalteten Servietten, den weißen Polstersitzen, den Vorhängen vor dem Fenster und das entschlossene Fahren des Zuges vermittelten ihm eine angenehme Ruhe. Anna hatte die Handtasche auf den Tisch gestellt und sie aufgeklappt. Sie holte eine Puderdose aus Schildpatt heraus, betupfte ihre Nasenspitze und warf einen raschen Blick aus den Augenwinkeln auf Nagl. Nagl lehnte sich zurück, nahm das Glas in die Hand und trank einen Schluck, während er genügend Zeit vergehen ließ, um über etwas anderes sprechen zu können. Er fragte sie nach Männern aus, die sie inzwischen kennengelernt hatte, sie log ihn an, er spürte es, wollte jedoch nicht daran rühren, wollte gar nichts wissen.
    Anna blickte aus dem Fenster und sagte nichts. Durch irgend etwas hatte er sie verletzt, aber er war nicht besorgt darüber. Sie saß im Speisewagen und konnte nicht weggehen. Er gönnte ihr ihre Verletzung. Auch er war verletzt gewesen. Gerade das Oberflächliche an ihren Bekanntschaften war das Verletzende gewesen. Ihm wäre lieber gewesen, sie hätte sich in jemanden verliebt und ihn verlassen, als daß sie ihn heimlich betrogen hatte.
    Auf dieser weit entfernten, blauweißen Weltkugel, die sich mit großer Geschwindigkeit um ihre eigene Achse bewegte und durch das All flog, hatte er das einmal sehr wichtig genommen. Sein Leid kam ihm bei diesem Gedanken klein vor. Aber es war nicht klein gewesen. Es war so groß gewesen, daß er lange nicht aus sich selbst hatte herausfinden können. Anna blickte noch immer aus dem Fenster. Damals, als er erfahren hatte, daß sie neben ihm Zufallsbekanntschaften hatte, hatte er zum ersten Mal seine Auswechselbarkeit gespürt. Es war etwas Neues gewesen zu erfahren, daß andere sofort seine Stelle einnehmen konnten. Und dann, ein paar Wochen später, als er krank gewesen war, war ein Lehrer aus einem benachbarten Ort an seine Stelle getreten, den der Direktor und die Kinder sehr gemocht hatten. Als Nagl wieder zurückgekommen war, hatte er sich eingestehen müssen, daß er bald vergessen gewesen war. Was hatte der andere gehabt, das ihm fehlte? …
     
    Im Speisewagen saß ein junger Österreicher mit
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