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Winterreise

Winterreise

Titel: Winterreise
Autoren: Gerhard Roth
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hatte, seine Vorstellung von der Erde im Weltraum und vom Ende der Erde. Der Mann hatte in der Dunkelheit gestanden und ihn angesehen. Er hatte ihn geduldig und genau betrachtet, dann war er ohne Eile aus dem Abteil gegangen und eine Sekunde später verschwunden. Je mehr er darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher kam ihm seine Erklärung vor: Der Tod hatte ihn schon geraume Zeit begleitet, und jetzt erst bemerkte er, daß er ihm die Verwirrung nahm, die ihn bedrängte. Er hatte sich ihm gezeigt, nicht um ihn zu erschrecken, sondern um ihn zu trösten und Ruhe finden zu lassen. Das Laufen zum abfahrenden Zug nach Neapel, das Gedränge am Gang, die fremde Sprache und Annas glückliches Gesicht waren ihm zum ersten Mal wie etwas vorgekommen, das frei war von Schuld.
     
    Die Sonne schien hell auf Olivenhaine, Kanäle, in denen Nagl verschlungene Grünpflanzen unter der Wasseroberfläche sehen konnte, Windräder, die sich auf hohen Holzgerüsten drehten, grüne Kakteen und Bäume, an denen gelbe Orangen und rosa Knospen zwischen den Blättern leuchteten. Der Gedanke an die Vergänglichkeit ließ ihn das Wachsen, Grünen und Blühen noch deutlicher sehen und staunen, daß es Winter war. Anna saß neben ihm auf einem Koffer und sah einer häkelnden Nonne durch die Abteiltür zu. Sie saß neben ihm, schwieg und drückte ab und zu seine Hand, wie um sich zu vergewissern, daß er hier war. Dann, plötzlich tauchte blendendhell und in der Ferne von einem zarten Lichtschimmer bedeckt das Meer auf. Es zeigte sich ihm prachtvoll, weit und groß. Kleine Schiffe schienen auf ihm zu stehen, es ließ es geschehen, gleichmütig und gutmütig. Nagl konnte seinen Blick nicht abwenden. Der Tod war in der Dunkelheit, in der Beengung in sein Abteil gekommen, während das Meer im Licht dalag, einladend und schön, weit und unzerstörbar. Ein Wasserflugzeug flog über das Meer, ließ sich weißschäumend auf ihm nieder, neben Bojen, die aussahen wie winzige Blutströpfchen.
     
    Dann stieg der Zug an, einen steinigen Berg hinauf, vorbei an einem rosafarbenen Bahnhof, vor dem Palmen standen und Eisenbahnwaggons gefüllt mit Orangen, die Nagl durch Drahtgitter sehen konnte. Das Meer lag jetzt unter ihnen, die Sonne glitzerte und flimmerte auf ihm, und Nagl war, als könnte er hinter dem weiten Meer die Erdkrümmung erkennen, als könnte er sehen, daß die Erde eine Kugel war. Er wußte nun auch, worüber er mit dem Gendarmen hatte sprechen wollen, die ganze Zeit über vom Augenblick an, als er sich in die Hand geschossen hatte, bis er das Haus verlassen hatte: Es war die Bewegung, die er beim ersten Anblick des Meeres verspürt hatte. Und jetzt, während sich der Zug wieder in das Landesinnere bewegte, schien es ihm, als hätte ein längerer Anblick der Erscheinung das Wunderbare genommen. Zum ersten Mal hatte er das Meer gesehen. Immer war er nur in die Stadt zu seinen Eltern gefahren oder in das kleine Winzerhäuschen, das umgeben war von hohem Gras, Obstbäumen, Margeriten und Steinnelken und in dem er Anna geliebt hatte. Die Begegnung mit dem Tod änderte nichts an seinem Glücksgefühl. Es war ihm, als sei er ein Nachbar, dessen Arm er als Druck an seinem Arm spürte, von dem er jedoch nichts wußte.
5
    Vor dem Bahnhof von Neapel wartete eine Schar von Taxifahrern, Trägern, Arbeitslosen und Pensionisten, die sie umringte. Als Anna das Hotel »De la Gare« verlangte, stellte sich ihnen ein faltiger Herr mit Brille, Mantel und Hut in den Weg und erklärte, daß das Hotel »bankrott« sei. Im nächsten Augenblick erschien ein Mann im Kamelhaarmantel mit einer Samtkappe, drückte Nagl eine Visitenkarte in die Hand und nahm die Koffer. Er stürmte auf die breite, von dichtem Verkehr befahrene Straße. Autos hupten und die Straße lag in grellem Licht. Nagl lief hinter dem Mann her, der sich zwischen Autos hindurchwand und von dem er oft nur die schwarze Samtkappe sah. Er hielt die Visitenkarte in der Hand, ohne daß er Zeit fand, sie anzusehen. Der Mann bog in eine Nebenstraße ab. Als Nagl den Kopf hob, sah er Topfpflanzen auf Eisenbaikonen, Wäsche, die aus Fenstern hing, ockerfarbene Häuser mit abgebröckeltem Verputz und wahllos aufgeklebte Plakate. Auf einem Pappschild, das Blasen geworfen hatte, stand »Laboratorio Dentistico«, darunter war ein großes künstliches Gebiß gezeichnet. Der Mann wechselte die Straßenseite und verschwand in einem verwaschenen blauen Haus. Nagl zögerte keine Sekunde, lief über die Straße und riß
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