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Winterreise

Winterreise

Titel: Winterreise
Autoren: Gerhard Roth
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Farbfotografien von vulkanischen Erscheinungen und blätterte darin: Schwefelausblühungen vor der Eiswand des Gletschers Torfajökull in Südisland, der glühende Lavafluß aus dem Kilauea in Hawaii, Geysire im Yellowstone-Nationalpark, Lava mit blauer, glasiger Oberfläche aus Idaho, violette Aschenablagerungen auf Lipari und ein Blick in den Vesuvkrater, aus dem fahle Rauchschwaden stiegen. Er legte das Buch weg und rief Anna an. Obwohl er lange mit ihr befreundet gewesen war, war er seltsam aufgeregt. Er überlegte im ersten Augenblick, als sie sich meldete, aufzulegen, als er aber angefangen hatte zu sprechen, war er plötzlich von einer so starken Freude ergriffen, daß er sich zusammennehmen mußte, um nicht in einem fort zu lachen. Als er sagte, er wisse nicht, wie lange er fortbleiben wolle, hielt sie es für einen Scherz. Alles war selbstverständlich. Er wußte, daß sie eine Neigung dafür hatte, was sie für abenteuerlich hielt. Außerdem war sie von Natur aus leichtsinnig. Ihr Vater hatte ein Optikgeschäft, irgendwie würde er auch ohne sie zurechtkommen. Er war sich auf einmal nicht sicher, ob sie ihn ernst nahm. Glaubte sie, daß er nur spaßte? Spottete sie über ihn? Aber sie nahm ihn vollkommen ernst, und er merkte jetzt, daß sie es mit großer Heftigkeit tat. Er blickte aus dem Fenster. Auf der Straße ging der Kinobesitzer mit seinen Gummistiefeln und dem lebhaften Spitzhund. Das alles würde für ihn bald Vergangenheit sein.
    Mit seinem Koffer verließ Nagl das Haus. Kaum hatte er einige Schritte auf dem Weg, der hart von niedergetretenem Schnee war, zurückgelegt, als der Gendarm auf ihn zukam. Seine Augen waren verwaschen blau, als seien sie von der schimmernden Augenflüssigkeit aufgeweicht. Er roch nach Alkohol und machte ein gehässiges Gesicht. »Ich meine es ernst«, sagte er.
    Nagl dachte an die Frau des Gendarmen und es kam ihm lächerlich vor, schuldbewußt zu schweigen. Im nächsten Augenblick hatte der Gendarm nach seiner Pistole gegriffen und sie gegen seine Hand gerichtet. Er hielt die Pistole in der einen Hand, starrte Nagl ins Gesicht, drückte ab und schaute daraufhin ungläubig die andere an, aus der Blut lief.
    »So gehen wir doch hinauf!« fuhr er Nagl gleich darauf an. Nagl nahm ein Taschentuch und wickelte es um die Hand des Gendarmen, bevor er ihn, den Koffer tragend, auf sein Zimmer führte. Er hielt die Hand über das Waschbecken und nahm das Taschentuch herunter. Das Blut lief in das Waschbecken und Nagl drehte das Wasser auf. »Sie müssen zum Doktor«, sagte er.
    Die Leinwandjalousien waren heruntergelassen und erfüllten das Badezimmer mit gelbem Licht.
    Das war also der letzte Tag des Jahres: Ein flüchtiges Wiedersehen mit der Frau des Gendarmen, der Leichenzug, das leere Klassenzimmer, eine Erinnerung, der Hubschrauber, ein plötzlicher Entschluß, Anna, ein Koffer mit gebügelter Wäsche und ein verrückt gewordener Gendarm, der sich aus Eifersucht in die Hand schoß. Er sah den Vesuv in weiter Ferne entschwinden. Anna würde im Zug sitzen und allein fahren. Es war grotesk. Anna würde die Wandgemälde in Pompeji betrachten, auf den Vesuv steigen, das Meer sehen, während er sich mit dem Gendarmen herumschlug. »Sie sehen, ich mache Ernst«, sagte der Gendarm. »Ja«, antwortete der Lehrer. Er nahm seinen Koffer und ging hinaus.
    Es wurde Abend.
    Die Wolken flogen tief und schnell, und als Nagl aufschaute, kam es ihm vor, als blicke er in ein gewaltiges Meer über seinem Kopf, das über die Erde strömte.
2
    Die Erde war für ihn jetzt eine vereinsamte, saphirblau und weiß gemaserte Kugel in der Schwärze des Universums, ein winziger Körper, der im Nichts schwebte – wie er sie auf farbigen Fotografien gesehen hatte. Dieses Bild von der Erde hatte er im täglichen Leben nicht. Da war die Erde das Schulgebäude, die Fischteiche, eine Himmelsstimmung, die er sich in ein Notizbuch schrieb, Kindergesichter, sie war Geruch von Bodenöl, schwebender Löwenzahn, die Kinderzeichnungen an den Wänden, die Frau des Gendarmen – nein, sie bestand nicht einmal daraus, sondern nur aus Selbstverständlichkeiten. Das Gewöhnlichste und Normalste, das Alltäglichste, das sich tausendfach wiederholte, so daß er es gar nicht mehr wahrnahm, war die Erde. Von weitem war sie das, was ihm wie seine Vorstellung vom Leben vorkam: Etwas Wunderbares, Geheimnisvolles. Aber je näher er an dieses Leben herankam, desto mehr löste es sich auf in Einzelheiten, in Kleines, in der
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