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Winterreise

Winterreise

Titel: Winterreise
Autoren: Gerhard Roth
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Eigenschaften an ihr, die er früher übersehen hatte. Sie war mutiger als er und ehrlicher. Er stellte seine Vergangenheit noch immer so dar, als sei er ihr immer treu gewesen. Er bildete sich ein, dadurch in Zukunft ihre Treue erzwingen zu können, während er, wenn er zugab, daß er nicht anders gehandelt hatte als sie, fürchtete, daß sie kein Schuldgefühl mehr empfände und sich wieder leichtfertiger auf ein Abenteuer einließe. Er genoß dadurch, daß er behauptete, keine andere Frau neben ihr gehabt zu haben, ihr Vertrauen. Sie mußte vor seinem Mißtrauen, auf das er jetzt ein Recht hatte, auf der Hut sein. Aber er spürte auch, daß er von ihr abhängig war. Er wollte sie nicht verlieren. Wenn es darauf ankam, würde er alles tun, daß sie bei ihm bliebe. Er mochte ihre Fröhlichkeit und Wärme und ihre Leidenschaft. Er mochte, daß sie sich von ihm gekränkt fühlte und eifersüchtig war. Und im Grunde mochte er, daß sie unberechenbar und daß er durch sie erfahren hatte, daß es keine Unschuld gab. Die Liebe war für ihn jetzt ein Betrügen und ein Betrogenwerden, und wenn er liebte, mußte er sich dazu bekennen, auch wenn er es sich niemals zugeben würde.
53
    Sie trieben sich zwischen den Marktständen herum und kauften Orangen. Der Nebel war dicht, sie wußten nicht, wo sie sich befanden. Der Markt in Neapel und der Nebel auf dem Vesuv fielen Nagl ein. Ein Fischhändler holte aus einer Tasse einen lebenden grauen Aal mit weißem Bauch, der sich um seine Hand wand, und hieb ihm mit einem großen Messer den Kopf ab. Der Aal hatte sich jedoch so heftig bewegt, daß der Mann ihn verfehlt und nur einen Teil des Kopfes abgeschnitten hatte, so daß er nochmals hatte zuhauen müssen. Anna wollte gehen, aber Nagl sah dem Händler weiter zu, wie er den Schwanz des Aales mit einem Eisenstück an ein Brett nagelte und ihm den Bauch aufschnitt, während sich die Schwanzflossen nach oben krümmten, wie er das Rückgrat herausschnitt, und wie der Aal ohne Rückgrat sich auf dem blutigen Brett krümmte. Eine alte Venezianerin mit weißen Haaren und runzeligen Händen ließ ihn in Papier wickeln, in dem er klebrig liegen blieb. Die Frau hatte eine lange Nase, und das Brillenetui, aus dem sie eine Brille herausnahm, um die Ware zu begutachten, sie zusammenklappte, wieder aufsetzte und endlich wieder verstaute, war so abgegriffen, daß Nagl das Aluminium unter dem Stoff sah. Ein anderer Händler schlug einem großen, lachsfarbenen, häßlichen Fisch den Kopf ab und spaltete ihn der Länge nach in zwei Teile, dann hielt er inne und blickte Nagl, der vor ihm stehengeblieben war, fragend an.
54
    Frierend saßen sie im Vaporetto, und Anna atmete vor Kälte zischend zwischen den Zähnen. In Murano Navagero gingen sie in eine Glasfabrik, und wieder hatte Nagl ein unbestimmtes Gefühl des Abschiednehmens. Wenn er sich das Leben seines Großvaters nach dem Tode vorgestellt hatte, hatte er ihn in Gedanken auf offenem Meer gesehen: Er stand an Deck des Schiffes »Skagerrak« und hatte ihm den Rücken zugewandt. Der Wind zerzauste sein Haar, und er stand ruhig da und schaute auf das Meer. Bei dieser Vorstellung sagte sich Nagl, daß er glücklich war. Er hatte die Erde hinter sich gelassen, und vor ihm lag die Unendlichkeit. Sie hatte ihn aufgenommen, und er stand staunend und ungläubig und voll Dankbarkeit vor ihr und in ihm war Ruhe. Nagl bemerkte, daß er nicht Abschied von ihm genommen hatte. Er war seinem Tod ungläubig gegenübergestanden. Manchmal, wenn er den Großvater umarmt hatte, hatte er seine Bartstoppeln an seinem Gesicht reiben gefühlt und gedacht, daß er alt war und bald sterben müßte. Oder er hatte seine Hand gehalten, die Wärme seines Körpers gespürt, in die entzündeten Augen geschaut und daran gedacht, daß er sich eines Tages an diesen Augenblick erinnern würde, wenn der Großvater gestorben wäre. Er hatte vieles mit ihm gesprochen und vieles getan, im Wissen, daß die Gegenwart bald nur noch eine Erinnerung an ihn sein würde. Manchmal war dieser Gedanke so stark gewesen, daß Nagl absichtlich von etwas anderem hatte sprechen müssen. Dann wieder hatte er ihm lange zugehört, wenn er ihm von Verdauungsproblemen, Schlaflosigkeit, Atemnot, Unruhe, Sprechschwierigkeiten und Mattigkeit erzählt hatte. Er hatte nicht sterben wollen. Er schien das Leben nie in Zweifel gezogen zu haben, dachte Nagl. Im Grunde war er dankbar für alles, was ihn getroffen hatte, und für alles, wovon er verschont geblieben
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