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Winterreise

Winterreise

Titel: Winterreise
Autoren: Gerhard Roth
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Papierschiffchen.
51
    Das Eisengeländer fiel klappend und klingend in das Vaporetto zurück, das an aufgelassenen und geschlossenen Hotels vorbeifuhr, die in der Dunkelheit noch verfallener aussahen. Im erleuchteten Kabinenraum saß nur ein Mann mit einem Geigenkasten.
    Wieder fiel Nagl sein Großvater ein. Fünf Jahre war er arbeitslos gewesen. Obwohl er die Arbeit als Zwang empfunden hatte, hatte er sich nach Arbeit gesehnt. Er hatte Schachpartien von Aljechin, Murphy, Bodwinik, Capablanca und Euwe so lange nachgespielt, bis er sie auswendig gekonnt hatte. Er hatte seinem Ich einen Turm vorgegeben und gegen das andere Ich einen Bauern geopfert. Er hatte gegrübelt, warum er gegen sich verloren, welchen Fehler er gemacht hatte. Auch als der Nationalsozialismus gekommen war, hatte er gegen sich weitergespielt, obwohl er dankbar für die Arbeit gewesen war. Fünf Jahre hatte er bis dahin jeden Tag, jede Stunde gespürt, daß er Nichts gewesen war. Jetzt brauchte man ihn. Er war weiter Nichts, aber er konnte es vergessen. Er hatte an das Leben geglaubt, und dieser Glaube hatte ihm genügt.
52
    In der Nacht umarmte Nagl Anna. Er ließ sie schlafen und küßte sie zärtlich. Es war dunkel, die Balkontür war halb geschlossen, nur hin und wieder hörte er ein Vaporetto brummen. Annas Mund schmeckte nach Schlaf. Nagl stützte sich auf seine Arme und begann sie zu lieben. Sie stöhnte leise, blieb ganz ruhig und ließ es mit wohligem Gurren geschehen. Aber sie erwachte nicht, und Nagl spürte wieder seine Müdigkeit, seine Bewegungen wurden langsamer und er schlief ein.
    Das Gedröhn der Vaporetti, die Geräusche der Motorboote und Menschenstimmen waren das erste, was er am nächsten Morgen hörte. Die Gebäude schimmerten durch ein milchiges Licht, während die Dächer in einem schattenhaften Nebel lagen. Er kroch tiefer in seine Decke und betrachtete Anna. Eines ihrer Augen war halb geöffnet und bewegte sich. Er berührte sie, aber sie schlief wirklich. Immer hatte er das Gefühl zu lieben gesucht. Immer hatte er es erfahren als etwas, das ihn veränderte, das ihn mit Glücksüberschwängen überfiel und gleichzeitig verzweifeln ließ. Er war so sicher, wenn er liebte, daß er sich alles zutraute, zugleich aber war er der lächerlichste Mensch und litt. Er glaubte einer Vorstellung nachleben zu müssen, von der er annahm, daß sie der Geliebten gefiel. Anna hatte ihn abhängig und selbständig zugleich gemacht. Dadurch, daß sie ihn betrogen hatte, war er ehrlicher geworden. Eigentlich hatte er, während er noch mit Anna zusammen war, immer eine Frau gesucht, die ihm half, Anna zu vergessen. Er ließ es nie so weit kommen, aber er hatte überlegt, mit welcher Frau er nach Anna weiterleben könnte. Er hatte mit anderen Frauen geschlafen und war voll schlechten Gewissens und Unbehagens zu Anna zurückgekehrt, und sie hatte es nicht anders gemacht als er. Die Zeit würde wieder kommen, wo sie Ersatz füreinander suchten.
     
    Am Anfang einer Liebe war er immer sorglos gewesen. Eigentlich war es ihm nur darum gegangen, eine bestimmte Frau zu umarmen und ihr Geliebter zu werden. Was vor ihm gewesen war, hatte ihn nicht gekümmert. Wenn er es gehört Jiatte, hatte er es zur Seite geschoben. Dauerte die Liebe aber länger, so wurde die Vergangenheit der Geliebten zu etwas Quälendem, das die Gegenwart unsicher machte, und doch spürte er dadurch neue körperliche Begierden. Manchmal war die Liebe so müde und gleichgültig gewesen, daß er ununterbrochen das Gefühl gehabt hatte, etwas zu versäumen. Er hatte sich in eine andere Frau verliebt, weil er die versäumten Möglichkeiten nicht ertragen hatte. Folgendes hatte ihn überrascht: Gerade, wenn er begonnen hatte, eine Frau zu lieben, hatte er auch eine leichte Hand für Liebschaften gehabt. Wenn er jedoch unglücklich gewesen war, war er auch schwerfällig und ungeschickt gewesen.
     
    Er sah Anna an und war erstaunt über seine Gedanken. Wahrscheinlich dachte sie Ähnliches, während sie mit ihm sprach oder während er nicht bei ihr war. Niemals sagte sie ihm sofort, daß ihr ein Mann gefiel. Erst im nachhinein, lange Zeit später, machte sie eine vorsichtige Bemerkung. Sie hatte gelernt, sich vor ihm zu schützen und zu verstecken. Auch er machte es nicht anders. Und trotzdem war ihm dieses Wissen jetzt kein Hindernis mehr, Anna zu lieben. Er liebte sie auf eine neue Weise. Er spürte sich noch stärker zu ihr hingezogen, er mißtraute ihr, aber er erkannte auch
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