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Winterreise

Winterreise

Titel: Winterreise
Autoren: Gerhard Roth
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Stiegen, die zu den Anlegestellen führten, und die leeren Gondeln, mit Planen verdeckt, zwischen denen verlorene Orangen und weiße kleine Holzstückchen schwammen. Die Glastür eines Ristorantes war angelaufen und der Messingknauf, der die Form eines Vogels hatte, von Grünspan befallen. Nagl sah durch eine Lücke ein Klavier in einem großen Raum und in einer Ecke abgestellte Flaschen. Das Pflaster vor dem Ristorante war aufgerissen, und der Mann, der eine Pflanze auf der Schulter trug, drückte sich umständlich an ihm vorbei. »Zu Hause ist Winter«, dachte Nagl, »Schnee liegt, hier ist es kalt und leer.« Hinter einem Torbogen bemerkte er einen dunklen Gang mit Plakaten, auf denen Pferde mit fliegenden Mähnen abgebildet waren. Es roch nach Fisch. Er ging in den Gang hinein und wartete, bis es ihn nicht mehr in der Kehle würgte. Seine Zurückhaltung wurde oft mit Kälte verwechselt. Wenn er eine Frau geliebt hatte, hatte er sich nicht anmerken lassen, daß ihm eine Eigenschaft an ihr nicht gefallen hatte. Obwohl er fühlte, daß er darunter litt, konnte er noch immer freundliche Zustimmung geben. Aber gerade dadurch, weil er schwieg, lächelte, höflich war, im Innersten aber an etwas anderes dachte und sich einredete, daß er ohnedies wünschte, was die anderen wollten, wirkte er nicht herzlich. Er verstellte sich nicht mit irgendwelchen Absichten. Manchmal hatte er den Verdacht, daß die meisten genauso unzufrieden waren wie er, nur erschienen sie ihm gleichmütiger. Vielleicht erwarteten sie sich nicht viel anderes, während er immer voll Erwartung war. Und er vertraute zuwenig auf sich selbst. Oft hatte er feststellen müssen, daß er insgeheim recht gehabt hatte. Er hatte zu etwas geschwiegen, es aber zugelassen, und dann war es genauso eingetreten, wie er es sich gedacht hatte. Bei Meinungsverschiedenheiten in der Schule zum Beispiel, hatte er häufig Ideen nicht auszusprechen gewagt; um vieles später hatten andere sie gehabt und waren dafür gelobt worden. Er war sich dann überflüssig vorgekommen. Was hätte er sagen sollen? – Ein Boot mit leeren Obstkisten fuhr vorbei. Nagl sah auf einer der runden Bronzeuhren, die an der Straßenecke angebracht waren, wie spät es war. In der Nähe des Hotels gelangte er in eine enge Gasse, in der Häuser durch eiserne Kästen mit Glasfenstern verbunden waren. Die Scheiben waren verdreckt und dunkel, und die Gasse sah düster aus. Er drehte sich um, niemand folgte ihm. Auf einem Stapel von schwarzen Holzklötzen hockte eine Tigerkatze unter einem Kater. Der Kater streichelte sie mit einer Pfote und fuhr langsam mit seinem steifen, rosafarbenen Glied nach unten. Das Loch der Katze war offen, aber der Kater ließ sich Zeit, er fuhr langsam zurück, dann war er blitzschnell in ihr. Die Katze schrie, der Kater bewegte sich, aber im nächsten Augenblick war die Katze mit einem Fauchen verschwunden, während der Kater erstaunt zurückblieb. Als Nagl weiterging, sah er eine große, schöne Angorakatze, die zwischen den Hölzern lauerte und alles bemerkt zu haben schien. Er kam an einer Trattoria vorbei, vor der, auf einer schwarzen, von einer durchsichtigen Nylonplane abgedeckten Tafel, die Speisen und Preise mit Kreide geschrieben waren. In einem Geschäft standen zwei Schneiderpuppen aus Samt. Als er in Neapel von den Matrosen niedergeschlagen worden war, hatte man ihn auf einen Stuhl gesetzt und auch dort hatte er eine Schneiderpuppe gesehen. Alles war jetzt voll Ähnlichkeiten. Wenn er verletzt war oder sich gekränkt fühlte, war er für den kleinsten Hinweis empfänglich. Die Verzweiflung und der Schmerz waren nicht nur Verzweiflung und Schmerz. Ganz im verborgenen spürte er gleichzeitig auch ein Gefühl der Lust, eine geheime Kraft, und je länger eine Verzweiflung anhielt, desto stärker spürte er diese Lust und Kraft. In der Verzweiflung war er zu Dingen fähig, die er sonst nie wagte. Es waren Dinge, die ihm entsprachen. Er war mutiger und ehrlicher. Die Scham fiel von ihm ab. In der Verzweiflung gab es eine Selbsterniedrigung, die wie ein angenehmer Schauer durch den Körper rieselte. Wie oft war er erstaunt, daß auch jemand anderer durch seine Selbstanklagen sich schuldig gefühlt hatte und verzweifelt wurde. Aber die Verzweiflung eines anderen hatte ihm immer die geheime Kraft und Lust genommen. Schnell war er ihrer überdrüssig und wütend geworden. – Er ging die Steinstufen auf der anderen Seite der Rialto-Brücke hinunter und stand vor dem Hotel.
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