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Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Autoren: Owen Matthews
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meinen Sommerferien 1991 war ich dort mit meiner Freundin Louise unterwegs. Zufällig kamen wir am Abend des 19. August 1991 nach Leningrad – am Vorabend des Putschversuchs gegen Gorbatschow, der letzten Todeszuckung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Als wir erwachten, sahen wir im Fernsehen das grimmige Gesicht von General Samsonow, dem Kommandanten der Garnison Leningrad, der die Bürger warnte, Versammlungen von mehr als drei Menschen seien illegal. Einen Tag später stand ich auf dem Balkon des alten Winterpalastes und blickte auf den Palastplatz voller Menschen, ein Meer aus Gesichtern und Plakaten. In der Nähe des Isaaksplatzes halfen wir Studenten dabei, Barrikaden aus Bänken und Stahlstangen über die Straßen zu bauen. Am folgenden Tag war der Newskiprospekt voller Menschen, so weit das Auge reichte: Eine halbe Million Menschen protestierten gegen das System, das drei Generationen lang fast jeden Bereich ihres Lebens bestimmt hatte. Die Parolen auf den selbst gemachten Plakaten der Demonstranten spielten mit den Worten »Freiheit« und »Demokratie«. Am selben Tag trat Boris Jelzin in Moskau vor das Weiße Haus, den Sitz des Obersten Sowjet der Russischen Föderativen Sowjetrepublik, stellte sich auf einen Panzer und sprach zu der Menge, die sich versammelt hatte, um das Gebäude gegen die reaktionären Kräfte zu verteidigen. Es war ein symbolischer Augenblick, und obwohl wir ihn in Leningrad nicht sehen konnten, weil das staatliche Fernsehen in den Händen der Putschisten war, markierte er das Ende von 74 Jahren kommunistischer Herrschaft. Der Coup scheiterte noch am selben Abend nach einem erfolglosen Versuch KGB-treuer Truppen, das Weiße Haus zu stürmen.
    Auf rätselhafte Weise nehmen große Menschenansammlungen eine ganz eigene kollektive Persönlichkeit an, und in meinen Augen war die treibende Kraft hinter dieser großen Menschenmenge in Sankt Petersburg ein überwältigendes Gefühl der Rechtschaffenheit, ein Gefühl, dass die Geschichte auf unserer Seite stand. Es herrschte ein ziemlich naiv-sowjetisches Gefühl vor, dass der Verstand unbesiegbar sei – dass endlich einmal das Leben unkompliziert war, dass wir recht hatten und der Kommunismus unrecht. Ich verspürte an jenem Tag ein intensives Glücksgefühl. Vielleicht, dachte ich, wurde endlich all das Böse im Land, all das Gift, das Russland verdorben hatte, ausgetrieben – durch diese vielen Hunderttausend Menschen, die auf die Straßen gegangen waren, um das Ende eines Systems zu fordern, das Millionen getötet hatte im Namen einer strahlenden Zukunft, die nie gekommen war. In späteren Jahren sollten die meisten der Menschen, die in jenen Augusttagen demonstriert hatten, bitter von den Früchten der Demokratie enttäuscht sein. Doch für viele in der Generation meiner Eltern – zumindest für die, die wie Lenina unter Stalin gelitten hatten – blieb der Fall des sowjetischen Systems für immer etwas zutiefst Wundersames. Eine alte Freundin schickte meiner Mutter eine Postkarte. »Neuscheli doschili?«, schrieb sie, ein wunderbar prägnanter russischer Satz, der bedeutet: »Ist es möglich, dass wir diesen Tag erleben?«
    Seltsamerweise schien meine Mutter recht unberührt von den Ereignissen in jenem Herbst, der mit dem Sieg von Jelzins Demokraten begann und Weihnachten mit Gorbatschows Rücktritt endete. Russland war damals ein Ort der Vergangenheit für sie; mit der für sie typischen Sturheit hatte sie einen Schlussstrich unter ihr altes Leben gezogen und war etwas Neues geworden. Sie war natürlich erfreut und sah es als Sieg der Dissidentenbewegung an, zu der sie zu einem kleinen Teil beigetragen hatte. Heute sagt sie, dass sie den ganzen Zusammenbruch der Sowjetunion von ihrer »herrlichen Isolierung« in London aus beobachtet hatte; große Gefühle kamen angesichts der Nachricht nicht auf. Doch ein Augenblick hallte in ihr nach, denke ich: In der Nacht bald nach dem Scheitern des Putsches versammelte sich eine tosende Menge vor der ehemaligen KGB-Zentrale am Lubjankaplatz und schrie nach Rache, weil der KGB die Reaktionäre unterstützt hatte. Ein Stahlseil wurde um den Hals der finsteren, lang gestreckten Statue Felix Dserschinskis gelegt, die auf einem Sockel mitten auf dem Platz stand. Ein Kran zerrte den eisernen Felix in die Luft, wo er über der Menge hin und her schwang, so als würde er gelyncht. Sie hatte immer daran geglaubt, dass die Sowjetmacht noch zu ihren Lebzeiten zusammenbrechen würde, sagte
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