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Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Autoren: Owen Matthews
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seinem künstlichen Bein seiner Tochter nachzulaufen, als sie durch die Passkontrolle ging. »Ich werde dich nie wiedersehen!«, rief er.
    Sechs Monate später wurde Sascha von seinem Chef im Justizministerium herbeizitiert. Der Minister stand neben seinem Schreibtisch und schrie Sascha an, weil er seine Parteiorganisation nicht darüber informiert hatte, dass er nicht nur eine Schwägerin im Westen hatte. Sascha brach dort im Büro mit einem massiven Herzinfarkt zusammen und starb noch am selben Nachmittag im Krankenhaus. Nadja durfte nicht aus Deutschland zur Beerdigung kommen und machte sich ihr Leben lang Vorwürfe, schuld am frühen Tod ihres Vaters zu sein.
    Waleri Golowister, der schüchterne, Ballett liebende Freund meiner Mutter, der meine Eltern einander vorgestellt hatte, erhielt nach neun oder zehn Anträgen endlich ein Ausreisevisum. 1980 reiste er, wie Tausende andere sowjetische Juden, mit seiner Familie in die USA. Bald darauf verließ er seine Frau Tanja und outete sich endlich als Homosexueller. Er lebte mit seinem langjährigen Geliebten Slawa in New York und organisierte Ballettreisen russischer Künstler.
    Waleri Schein, Mervyns Künstlerfreund von den Weltfestspielen, machte groß Karriere im Theatermanagement, wurde reich und berühmt und heiratete 1987 eine wunderschöne russophile Engländerin. Waleris Freunde erzählten sich immer wieder, wie sie einmal eine Stunde lang für Bananen Schlange gestanden und dann nur ein Kilo gekauft hatten – ein normaler sowjetischer Einkäufer hätte so viele gekauft, wie er nur tragen konnte.
    Georges Nivats Verlobte Irina Iwinskaja wurde Ende 1963 aus dem Gulag entlassen. Sie heiratete einen bekannten Dissidenten und emigrierte später nach Paris. Ihre Mutter Olga, Pasternaks Lara, blieb in Moskau, wo sie 1995 starb.
    Milas Nichte Olga konnte ihrer Schwester 1990 nach Deutschland folgen, indem sie einen Engländer heiratete. Sie ließ ihre Tochter Mascha in Moskau zurück, die von ihrer Großmutter aufgezogen wurde, meiner Tante Lenina. Als Mascha die Schule abgeschlossen hatte, ging auch sie für eine Krebsoperation nach Deutschland und blieb dort, wo sie irgendwann ihrer Krankheit erlag. Lenina blieb allein in Moskau zurück und starb im Mai 2008 an einem Herzinfarkt, gerade als dieses Buch erschien.

    Mein Vater hat seine Reiselust nie verloren. Meine ganze Kindheit hindurch war er immer wieder monatelang weg, weil er Gastprofessuren in Harvard, Stanford, Jerusalem, Ontario und Australien annahm. Ich liebte seine wunderbaren Briefe, die er mit bunten Zeichnungen von australischen Eidechsen, Piraten und kleinen Karikaturen von sich selbst in lustigen Situationen versah – wie er aus dem Boot fiel, mit dem Auto auf der falschen Straßenseite fuhr. Und er fehlte mir schrecklich, ich wartete immer verzweifelt auf seine Briefe. Mehrmals flog ich allein – als »Minderjähriger ohne Begleitung«, komplett mit meinen Personalien am Mantel, wie Paddington Bär – und besuchte ihn in Cambridge, Massachusetts, und in San Francisco. Wir Männer unter uns aßen dann im Schlafanzug Pizza, blieben abends lange auf und sahen uns im Fernsehen Godzilla-Filme an. Auf dem Charles River in Boston brachte mir mein Vater bei, Dingis zu segeln.
    Zu Hause war die Situation nicht so harmonisch, obwohl ich mich zu keinem Zeitpunkt weniger als absolut geliebt fühlte. Eher im Gegenteil: Nun, da meine Mutter keinen epischen Kampf mehr auszufechten hatte, richtete sie ihre Energien auf die Menschen, die ihr am nächsten waren – ihren Mann und ihre Kinder. Das Ergebnis war oft überwältigend. Das Reihenhaus in Pimlico war viel zu klein für diesen Dynamo emotionaler Energie. Mein Vater reagierte auf die regelmäßigen Dramen im Haus damit, dass er sich in seine eigene Welt zurückzog. Nach einem unbedeutenden Streit beim Abendessen erhob er sich schweigend vom Tisch, zog sich in sein Arbeitszimmer, seine Feste, zurück, der Tränen meiner Mutter nicht beachtend. Manchmal klirrte die Spannung im Haus wie Frost.

    Im Dezember 1988 begann mein Vater dank Michail Gorbatschows Perestroika, wieder regelmäßig nach Russland zu reisen. Nach außen hin erschien ihm das Moskau der späten Sowjetzeit unverändert, doch als er das erste Mal mit dem Trolleybus fuhr, entdeckte er keine KGB-Autos, keine Schlägertypen. Zum ersten Mal fühlte sich mein Vater auf den Straßen der Stadt frei und endlich anonym.
    Drei Jahre später war der Kommunismus in Osteuropa zusammengebrochen. In
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