Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Autoren: Owen Matthews
Vom Netzwerk:
sich über den Kamin hinweg an.

Epilog
    Zu vergessen und zu lächeln ist weit besser,
als sich zu erinnern und traurig zu sein.
    Christina Rossetti
    Mila und Mervyn kamen in grauem Londoner Nieselregen in Heathrow an. Sie nahmen den Bus zur Victoria Station; ein Taxi wäre zu teuer gewesen. Als sie den Westway entlangfuhren, kam London Mila, wie sie mir erzählte, »sehr arm, sehr heruntergekommen« vor. Sie sah die alten Frauen in ihren Wollmänteln und Kopftüchern und sagte zu ihrem frisch gebackenen Ehemann, sie seien »genau wie unsere russischen Babuschkas«.
    Mervyns kleine Zweizimmerwohnung in der Belgrave Road in Pimlico war sehr asketisch, mit einem zerschlissenen Teppich und nur unzureichend geheizt über große braune Nachtspeicheröfen, deren Temperatur niedrig eingestellt war, um Geld zu sparen. Meine Mutter erinnert sich, dass Mervyns Bett nur knapp 80 Zentimeter breit und mit dünnen Armeedecken bedeckt war.
    Als der frisch entlassene Gerald Brooke vorbeikam, um zu fragen, ob Mila etwas bräuchte, dachte sie zuerst an richtige Wolldecken. Nach den überheizten Wohnungen in Moskau fand Mila die Wohnung furchtbar kalt. Um sich aufzuwärmen, ging sie hinaus und lief schnellen Schrittes durch Pimlico. Von diesem ersten Winter in London blieb ihr vor allem »die schreckliche feuchte Kälte, die bis in die Knochen dringt«, in Erinnerung – »viel schlimmer als die russischen Winter«.
    Meine Eltern gingen im St James’s Park spazieren und ins Oberhaus zum Tee mit Lord Brockway, einem der Würdenträger, die Mervyn überredet hatte, ihm bei seinem Kampf zu helfen. Ein Freund von Mervyn nahm Mila mit ins Harrods, aber sie war nicht weiter beeindruckt. Der westliche Überfluss verblüffte sie nicht so wie manchen sowjetischen Besucher. »Wir hatten das alles in Russland – vor der Revolution«, scherzte sie, als sie ehrfürchtig durch Lebensmittelabteilungen geführt wurde. Mervyn fuhr mit ihr nach Swansea, mit Zwischenstopp in Oxford, und stellte Mila seiner Mutter vor. Obwohl sie Mervyn all die Jahre beschworen hatte, seinen Kampf aufzugeben, umarmte Lillian Mila herzlich.
    Meine Mutter machte sich sofort daran, die Wohnung meines Vaters so gemütlich wie möglich zu machen. Sie stellte das alte Porzellan auf, das sie aus Russland mitgebracht hatte, und räumte ihre Bücher in die Regale. Sie gab sich größte Mühe, die perfekte Ehefrau ihrer Vorstellung zu werden, und bereitete Abendessen aus ihrer zerlesenen Ausgabe von 1000 leckere Rezepte zu, der kulinarischen Bibel der sowjetischen Hausfrau. Sie versuchte, sich mit den Nachbarn anzufreunden, doch die meisten schnitten sie und grüßten sie nicht einmal im Hausflur – ob aus britischer Kühle oder weil Mila Bürgerin eines feindlichen Landes war, fand sie nie heraus. In diesen ihren ersten sechs Monaten wurde sie oft vom Schock der Entwurzelung überwältigt und brach in Tränen aus. Sie weinte vor Kälte, wenn sie Übersetzungen tippte, um ein bisschen Geld zu verdienen, und ihre Tränen tropften zwischen die Tasten der Schreibmaschine. Mervyn wusste nicht, wie er sie trösten sollte. Er beschloss, sie sich ausweinen zu lassen.
    »Ich kann nicht sagen, dass ich vollkommen unglücklich war«, erinnert sich meine Mutter. »Aber ich glaube, ich habe zu viel Zeit meines Lebens in Moskau verbracht, um nicht schrecklich unter dem Weggang zu leiden.«
    Sie vermisste ihre Freunde und die Leidenschaft und Aufregung des Dissidentenlebens – Samisdat-Bücher austauschen, auf die neue Ausgabe der Literaturzeitschrift Nowy Mir warten (die es sogar gewagt hatte, Solschenizyns Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch zu veröffentlichen), Teil sein einer hingebungsvollen Gruppe Gleichgesinnter, die ihr zur Familie geworden war. Und obwohl sie nie reich gewesen war, waren sogar die kleinen Luxusgüter des sowjetischen Lebens immer erschwinglich gewesen. Doch in London reichte Mervyns Gehalt kaum für seine Bedürfnisse und schon gar nicht auch noch für Milas. Sie erinnert sich, wie sie weinend vor einer U-Bahn-Station stand, nachdem sie bei einem Kurzwarenhändler in der Warren Street ihr ganzes Geld für kleine Geschenke für ihre Moskauer Freunde ausgegeben hatte und nicht mehr genug für eine Fahrkarte übrig hatte. In einem Anfall von Großzügigkeit ging mein Vater mit ihr zu Woolworth und kaufte ihr für ein Pfund ein grünes Wollkleid. Es war das einzige Kleidungsstück, das sie sich in ihrem ersten Jahr kaufte.
    Zum ersten Mal in ihrem Leben war
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher