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Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Autoren: Owen Matthews
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Mila niedergeschlagen und unfähig, den unbesiegbaren Willen aufzubringen, der ihre Kämpfe seit der Krankheit in ihrer Kindheit angetrieben hatte. Sie schrieb ihrer Schwester in Moskau, welch schreckliches Heimweh sie hatte. Meine Mutter sagte nicht offen, dass sie zurück nach Hause wollte, aber Lenina fürchtete, das läge nur daran, dass ihre dickköpfige Schwester nicht zugeben konnte, all die Jahre des Kampfes seien ein Fehler gewesen. Lenina zeigte Sascha den Brief, und der setzte sich an den Küchentisch und formulierte eine Antwort. »Liebste Mila, es gibt keinen Weg zurück für Dich«, schrieb er. »Du hast Dein Schicksal gewählt und musst damit leben. Liebe Mervyn; hab Kinder.«
    Nach so hohen Erwartungen, so viel Idealisierung, so vielen Opfern und Enthusiasmus, so hohen Idealen, konnte da die Wirklichkeit etwas anderes sein als eine Enttäuschung? Welche Ehe, welches Leben im Märchenland des Westens konnte je die Erwartungen von sechs Jahren Sehnsucht erfüllen? Ich glaube, für meine Eltern war der Kampf zum Selbstzweck geworden, schon viel früher, als sie es wahrhaben wollten. Als der Sieg kam, wusste keiner von ihnen, wie die Geschichte weitergehen sollte. Jahrelang waren Mervyn und Mila füreinander übermenschliche Wesen gewesen, die Berge und Täler überwanden, an die Tore des Himmels klopften, sich dem Moloch der Geschichte entgegenstellten. Doch als sie endlich zusammenkamen, als echte, lebende Menschen, mussten sie plötzlich etwas erfinden, was keiner von beiden je kennengelernt hatte – eine glückliche Familie. Nach einem Leben als Schauspieler in einem großen Drama fiel es ihnen schwerer als alles zuvor, einfach wieder menschlich zu werden.
    Im Frühjahr 1970, als sie mit dem Zug aus Brighton, wo sie Russisch unterrichtet hatte, nach Hause fuhr, wurde Ljudmila einmal mehr von Melancholie überwältigt und brach in Tränen aus. Anders als in Russland kam keiner ihrer Mitreisenden auf sie zu, um sie zu trösten oder zu fragen, was mit ihr los sei. Doch dann blickte sie aus dem Fenster auf die grünen englischen Felder. »Was bin ich doch für eine Närrin«, dachte meine Mutter. »Ich habe nun sechs Monate lang geweint. Diese russische Düsternis muss aufhören.« Ganz langsam fing Mila an, sich ein eigenes Leben in London aufzubauen. Mein Vater hat Menschen immer gescheut und nie viele enge Freunde gehabt, doch meine gesellige Mutter fand schnell englische Freunde, die ihre Wärme und ihren Geist liebten und mit denen sie ins Theater und Ballett gehen konnte. Sie wurden für sie nie die enge, kameradschaftliche Ersatzfamilie, die sie in Moskau in ihrem Freundeskreis gefunden hatte, doch unter kultivierten Menschen zu sein linderte ihre Trauer um ihr altes Moskauer Leben.
    Meine Mutter nahm mehr Übersetzungsaufträge an und unterrichtete in Teilzeit an der Sussex University. Eine Organisation mit dem Namen Overseas Publications bot ihr eine Möglichkeit, Samisdat-Literatur auf Russisch herauszugeben, wodurch sie ihre Dissidentenleidenschaft fortsetzen konnte. Sie redigierte Das Urteil der Geschichte. Stalin und Stalinismus , eine minutiöse Anklage des Stalinismus des regimekritischen Historikers Roi Medwedew, und viele andere von Overseas Publications herausgegebene Bücher, von denen Exemplare via Paketpost über ein Netzwerk russischer Emigranten in ganz Europa in die Sowjetunion geschickt wurden. Überraschenderweise kamen fast alle Bücher an und wurden von Milas Freunden in Moskau begierig weitergegeben und mit der Schreibmaschine abgetippt. Der Leiter der Organisation erzählte Mila, er werde von einem reichen amerikanischen Industriellen finanziert; in Wahrheit stammten die Mittel aus dem CIA-Budget für geheime antisowjetische Aktivitäten. Ebenso wurde auch Radio Liberty finanziert, für das meine Mutter als Redakteurin arbeitete. Radio Liberty bot ihr sogar eine Stelle als Moderatorin an, doch sie lehnte ab, weil es ihren Aussichten darauf, eines Tages ihr Heimatland zu besuchen, schaden könnte.
    Mila verdiente bald genug eigenes Geld, um heimlich das bescheidene Haushaltsgeld aufzubessern, das ihr Mann ihr für Kleider und Bücher gab. Obwohl sie beide arm aufgewachsen waren, gab meine Mutter Geld mit einem Genuss aus, wie mein Vater es nie vermochte. Sie hatte immer schöne Dinge geliebt, und sobald sie konnte, kaufte sie alte Möbel und Bilder.
    Mila folgte Saschas Rat: Im Sommer 1971 war sie schwanger. Ich kam am 9. Dezember 1971 auf die Welt, im Westminster Hospital,
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