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Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Autoren: Owen Matthews
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Liebe so groß, dass sie, wie meine Mutter schrieb, »Berge versetzen und die Welt aus den Angeln heben kann«. Und obwohl die Briefe so schmerzlich sind, glaube ich, dass sie zugleich auch die glücklichste Zeit im Leben meiner Eltern schildern.
    Jetzt, wo ich sie durchblättere, auf dem Fußboden des Dachbodens, der mein Kinderzimmer war und in dem ich 18 Jahre lang unmittelbar neben dem verschlossenen Koffer schlief oder den Stimmen meiner Eltern lauschte, die von unten heraufschwebten, wird mir plötzlich klar, dass diese Korrespondenz ihre ganze Liebe enthält. »Jeder Brief ist ein Stückchen unserer Seele. Sie dürfen nicht verloren gehen«, schrieb meine Mutter in den ersten qualvollen Monaten nach der Trennung. »Deine Briefe bringen mir kleine Stücke von dir, von deinem Leben, deinem Atem, deinem pochenden Herzen.«
    Beide schütteten hier jeweils ihre Seelen aus, sie befanden sich in diesem Stapel Papier, der Blatt für Blatt sechs Jahre lang fast ununterbrochen auf Postzügen quer durch Europa ratterte. »Während unsere Briefe unterwegs sind, bekommen sie etwas Magisches … das macht sie so besonders«, schrieb Mila. »Jede Zeile ist mit dem Blut meines Herzens geschrieben.« Doch als sich meine Eltern wiedersahen, mussten sie feststellen, dass kaum noch genug Liebe übrig war. Sie war zu Tinte geworden und auf Tausende Seiten Papier geflossen, die nun sorgfältig zusammengefaltet in einem Koffer auf dem Dachboden eines Reihenhauses in London liegen.

    Wir glauben, dass wir mit unserem rationalen Verstand denken, aber in Wirklichkeit denken wir mit unserem Blut. Dieses Blut war in Moskau überall um mich herum. Ich habe als junger Erwachsener viel Zeit in Russland verbracht, und in jenen Jahren stolperte ich immer wieder über den Ursprung jener Erfahrungen, die für meine Eltern wesentlich waren. Viele der Details und Sinneseindrücke dieser Stadt nahm ich genauso wahr, wie meine Eltern es seinerzeit taten, auch wenn mir die Stadt so voll vom Hier und Jetzt schien. Der Geruch nach nasser Wolle in der Metro im Winter. Verregnete Nächte in den Seitenstraßen des Arbat, über denen der schaurige Koloss des Außenministeriums wie ein Schiff im Nebel glüht. Die Lichter einer sibirischen Stadt wie eine Insel in einem Meer aus Wäldern, gesehen aus dem Fenster eines winzigen wackeligen Flugzeugs. Der Geruch des Meeres im Hafen von Tallinn. Und gegen Ende meiner Zeit in Moskau die plötzliche glasklare Erkenntnis, dass ich mein Leben lang genau die Frau geliebt hatte, die neben mir am Tisch saß, mitten unter Freunden im warmen Dunst der Zigaretten und Gespräche in einer Küche in der Nähe des Arbat.
    Und doch war das Russland, in dem ich lebte, ganz anders als das Russland, das meine Eltern gekannt hatten. Ihr Russland war eine streng kontrollierte Gesellschaft, in der unorthodoxe Gedanken ein Verbrechen waren, in der alle wussten, was ihre Nachbarn taten, und das Kollektiv jedes Mitglied, das es wagte, sich über die Regeln hinwegzusetzen, massivem moralischem Terror aussetzte. Mein Russland war eine haltlose Gesellschaft. In den 70 Jahren unter sowjetischer Führung hatten die Russen viel von ihrer Kultur, ihrer Religion, ihrem Gott verloren; und viele von ihnen auch den Verstand. Aber immerhin hatte der sowjetische Staat das ideologische Vakuum mit seinen eigenen kruden Mythen und strikten Regeln gefüllt. Er hatte die Menschen ernährt, gelehrt und eingekleidet, ihr Leben von der Wiege bis ins Grab durchgeplant und, wichtiger als alles andere, für sie gedacht. Kommunisten – Männer wie mein Großvater – hatten versucht, einen neuen Menschen zu erschaffen, hatten den Menschen ihre alten Überzeugungen genommen und sie mit bürgerlichem Pflichtgefühl, Patriotismus und Fügsamkeit erfüllt. Doch als die kommunistische Ideologie wegbrach, verschwand auch ihre seltsame Fünfzigerjahremoral im schwarzen Loch abgehalfterter Mythologien. Die Menschen glaubten nun an Wunderheiler im Fernsehen, japanische Weltuntergangskulte und sogar wieder an den eifersüchtigen alten Gott der Orthodoxie. Doch tiefer als all diese neuen Glaubensrichtungen reichte Russlands absoluter, bodenloser Nihilismus. Plötzlich gab es gar keine Regeln mehr, jedes Mittel war erlaubt, und alles war möglich für die, die kühn und skrupellos genug waren, zu raffen, so viel sie konnten.
    Es gab jede Menge Asche, aber nur wenige Phönixe. Vor allem der narod , das Volk, zog sich auf sich selbst zurück, machte weiter wie immer
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