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Winter

Winter

Titel: Winter
Autoren: John Marsden
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nichts empfinden. Nein, das stimmt nicht, Gefühle waren ganz viele da. Aber ich würde sie ihm nicht zeigen, und weil ich mir nicht zutraute, diese Gefühle verbergen zu können, konnte ich sie nicht zulassen. Also presste ich meine Lippen fest aufeinander und wartete, bis er einen Bund alter Schlüssel aus dem Brennholz hervorgestöbert hatte.
»Da sind sie ja«, sagte er.
Da Ralph am Bahnhof so freundlich gewesen war, verkniff ich mir, was ich in diesem Moment am liebsten gesagt hätte: »Geh jetzt. Ich muss allein sein.« Das Einzige, wozu ich imstande war, war ein: »Ich schaff das schon alleine«, was er aber ignorierte. Ich bin nicht einmal sicher, ob er mich gehört hatte.
Als wir uns dem Haus näherten, wurde mir ein wenig schlecht. Der Haupteingang zum Hof ist in Wirklichkeit die Hintertür, weil man von dort den besten Zugang zu den Holzkisten und zur Waschstube, zu den Schuppen und zu den Koppeln hat. Die eigentliche Eingangstür führt auf eine hübsche und weitläufige Veranda, aber um dorthin zu gelangen, muss man auf der anderen Seite des Hauses einen steilen Pfad aus weißen Kieseln und mehreren Treppen in Kauf nehmen.
Wir betraten die hintere Veranda. An den Längsseiten der Wände hatten sich Wasserpfützen angesammelt und ich wäre beinahe durch ein morsches Brett getreten. Ralph war mit den Schlüsseln beschäftigt und schien nichts zu bemerken.
»Wie lange hat hier niemand gewohnt.«
Er sah mich erstaunt an. »Niemand seither.«
Es schien ihn zu verblüffen, dass ich das nicht wusste. Mich machte es wütend, dass ich es nicht wusste, dass ich so vieles nicht wusste. Das ist das Problem, wenn etwas passiert und man selbst noch klein ist. Die anderen gehen davon aus, man wüsste Bescheid, wenn man in Wirklichkeit die meiste Zeit keinen blassen Schimmer hat.
Ich war aber froh, dass niemand hier gewohnt und das Haus entweiht hatte. Dann sollte es lieber einstürzen.
Und die Einsturzgefahr schien tatsächlich im Bereich des Möglichen. Da Ralph immer noch nach dem passenden Schlüssel suchte, konnte ich mich ein wenig umsehen. Kein Wunder, dass sich auf der Veranda Pfützen ansammelten: Die Verschalung an der Decke hing zur Hälfte durch und an mehreren Stellen rankte sich Efeu durch die Schindelbretter. Der Wandanstrich hatte Blasen gebildet und blätterte ab. Mir war kalt. Ich schob meine Hände in die Ärmel meines Pullovers und streckte die Schultern vor, um die innere Wärme zu bewahren.
Ralph öffnete die Tür und ging hinein.
Ich nehme an, ich war ohnehin schon in einer genervten Stimmung, doch jetzt nervte mich nichts so sehr wie Ralph, der vor mir ins Haus ging. Es war mein Haus, mein Heim, und Ralph betrat es als Erster.
Vielleicht war das sogar gut so, denn so fand ich den Mut und die Entschlossenheit, durchzuziehen, was ich vorhatte.
Ich ging ihm nach, immer noch mit verschränkten Armen.
Der Geruch, der uns empfing, war zum Glück nicht so arg. Es roch nach Moder, das störte mich aber nicht weiter, denn ich war auf Schlimmeres gefasst gewesen. Der Teppich sah okay aus und das Haus schien trocken.
Ralph blieb in der Mitte des ersten Raums stehen und beobachtete mich. Er wollte sehen, wie ich reagierte. Ich setzte einen noch ungerührteren Gesichtsausdruck auf und kümmerte mich nicht um ihn. Der Raum war schmal, nahm aber die gesamte Breite des Hauses ein. Möbel waren keine da.
»Hier war das Sonnenzimmer«, sagte Ralph. »Dein Vater hat diesen hinteren Teil angebaut. Sie benutzten ihn als Frühstückszimmer, glaube ich.« Ich nickte. Daran konnte ich mich vage erinnern.

    Ich ging an Ralph vorbei und weiter in das nächste Zimmer. Das war die Küche und ich war kaum durch die Tür getreten, als eine Flut von so rasch aufeinander folgenden Bildern über mich hereinstürzte, dass eines in das andere zu schwappen schien. Es war wie ein Zugunglück in meinem Kopf. Völlig verwirrt blieb ich stehen. Ich wollte jede Erinnerung festhalten, keine einzige verlieren, doch ich befürchtete, sobald ich nach einer griff, würde die nächste vorüberrauschen und fort sein. Ich fühlte mich wie das Äffchen mit der Pfote im Glas, das in seiner Gier, eine Hand voll Erdnüsse zu ergattern, den Arm nicht mehr herausbekommt und den Jägern prompt in die Falle geht. In meiner Hand voll Erinnerungen hielt ich das Prasseln eines Kaminfeuers fest und den Duft nach frischem Popcorn und meine Mutter – oder jemand anders –, die mir ein Märchenbrot mit einem Gesicht aus Schokoladestückchen zubereitet. Ich
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