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Winter

Winter

Titel: Winter
Autoren: John Marsden
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bloß flüchtige Schemen in meinem Gedächtnis waren, und ich wollte die unscharfen Träume und Erinnerungen wieder zum Leben erwecken.
Ralph kam jedoch gar nicht auf die Idee, zu verlangsamen. Mit einer raschen Drehung des Lenkrads bog er in die Einfahrt, fuhr am Haupthaus und an der Scheune vorbei, an dem gelben Häuschen, das Gran früher bewohnt hatte, und hinauf zum Haus des Verwalters. All das ging so schnell, dass wir angekommen waren, ohne dass ich Zeit gehabt hatte, auch nur irgendetwas wahrzunehmen.
Sylvia kam aus dem Haus, in den Händen ein Geschirrtuch, mit dem sie sich abtrocknete. »Ja, so was«, sagte sie, »jetzt bist du also wieder da. Nach so vielen Jahren. Ich hätte dich gar nicht mehr erkannt. Auf der Straße wäre ich an dir vorbeigelaufen.«
Sylvias Gesprächigkeit war bemüht, ihre Freundlichkeit im besten Fall lauwarm, doch mehr war bei ihr nicht drinnen. Ralph war weicher als Sylvia.
»Komm rein«, sagte sie. »Der Teekessel kocht schon. Jetzt weiß ich aber nicht, ob du lieber Tee oder Kaffee trinkst. Oder möchtest du einen süßen Likör? Den muss ich für Ralph immer im Haus haben. Er ist ein echtes Leckermaul.«
An der Haustür blieb ich stehen. Auf einmal dachte ich, wenn ich da jetzt hineinginge, würde ich nie wieder herauskommen. Im übertragenen Sinne natürlich. Nicht, dass sie mich umgebracht hätten oder so. Aber wenn ich so anfinge, geradewegs in ihr Haus ginge und ihr Territorium beträte, säße ich in der Falle. Ich benötigte einen stärkeren Anfang, das spürte ich.
Ich fühlte mich nicht stark. Mit Umsteigen in Exley hatte die Bahnfahrt neun Stunden gedauert, wobei ich insgesamt höchstens ein paar Minuten geschlafen hatte. Aber ich nahm alle Energie zusammen, die ich aufbringen konnte. Meine Hände ballten sich zu Fäusten.
»Nein, danke. Als Erstes möchte ich mir den Hof anschauen.«
»Nicht doch. Du hast eine lange Reise hinter dir. Für Entdeckungsreisen ist später noch Zeit genug.«
Sie wandte sich bereits um, um ins Haus zu gehen, offenbar in der Annahme, ich würde ihr folgen. Hinter mir fügte Ralph hinzu: »Du möchtest doch jetzt sicherlich eine Tasse Tee.«
Ich spürte den Druck. Er war wie eine Kombination aus Traktor und Abschleppwagen – der eine schob von hinten an, während der andere von vorne zog.
»Nein«, sagte ich, spuckte es regelrecht aus. Jetzt waren nicht nur meine Fäuste geballt, auch meine Zähne bissen aufeinander. »Zuerst sehe ich mir den Hof an.«
Sie erstarrten, als hätte ich ihnen Schimpfwörter an den Kopf geworfen. Sylvia konnte mir nicht in die Augen schauen. Mein Benehmen war ungezogen und so gereizt, dass sie sich für mich genierten. Mein Gesicht glühte.
»Na gut«, sagte Sylvia. »Wenn du unbedingt willst.«
Ihr Blick wanderte über meinen Kopf zu Ralph und zwischen den beiden schien eine stumme Botschaft hin und her zu flackern.
»Ich komme mit«, sagte Ralph hinter mir.
»Nein«, erwiderte ich. »Ich will allein gehen.«
Mir war klar, dass die Entschlossenheit in meiner Stimme verebbt war. Meine Worte klangen schwach, selbst in meinen Ohren.
»Ich muss aber mitkommen«, sagte Ralph. »Die Schlüssel sind beim Holzschuppen versteckt. Ich muss dir doch zeigen, wo sie sind.«
Der erste Satz ging an ihn, aber ein Tiebreak hatte ich immerhin geschafft. Dennoch fühlte ich mich wie ein kleines Kind, als ich ihm sanft und gefügig den Hang hinunter folgte. Es war fast sechs Uhr abends und vom Tageslicht nicht mehr viel übrig. Auf einer Steinbrücke überquerten wir eine niedrige Böschung. Über mir hingen die bereits kahlen und braunen Äste einer Wisterie. Rechts von mir rankte sich ein Brombeerzweig am Brückengeländer entlang auf der Suche nach einem zusätzlichen Flecken weicher Erde, wo er Wurzeln schlagen konnte. Das Wasser links von mir war schwarz, ob vom Schlamm oder von moderndem Laub, war schwer zu sagen. Eine weiße Moschusente saß ganz allein auf einem Baumstamm und sah mich mit freundlichem Interesse an. Wenigstens hoffte ich, dass es freundlich war. Ich hatte das Gefühl, hier nichts und niemandem trauen zu können.
Wir wandten uns nach rechts und gingen unter den Wipfeln einer Ulmenallee den Abhang zum Gehöft hinunter. Obwohl das Haus lange nicht gestrichen worden war, schimmerte sein Weiß in der Dunkelheit. Abgesehen von den weißen Mauern und dem grünen Dach sah es aus wie auf dem Foto, das all die Jahre auf meinem Nachtkästchen gestanden hatte.
Mit Ralph an meiner Seite konnte ich aber vorläufig gar
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