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Windkämpfer

Windkämpfer

Titel: Windkämpfer
Autoren: Robert Redick
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erstreckte, und konnte jederzeit auf einem anderen Schiff anheuern. Und obendrein trug er einen Messingring mit seiner im Reichsjungenregister eingetragenen Bürgernummer. Ein solcher Ring kostete eine Monatsheuer, aber das war er auch wert. Ohne ihn konnte ein Junge, wenn er in einer Hafenstadt herumstreunte, jederzeit für einen entlaufenen Schuldknecht oder Ausländer gehalten werden. Aber nur wenige Teerjungen konnten sich den Messingring leisten; die meisten hatten entsprechende Papiere bei sich, und die gingen leicht verloren oder wurden gestohlen.
    Pazel hingegen war Schuldknecht und Ausländer – und zudem Angehöriger eines unterworfenen Volkes, was noch schlimmer war. Wenn in seinen Papieren der Vermerk ›Wegen Prügelei entlassen‹ auftauchte, könnte er auf keinem Schiff mehr anheuern. Er musste auf der Straße leben und darauf warten, dass ihn irgendjemand wie ein Geldstück auflas und für den Rest seiner Tage als sein Eigentum betrachtete.
    Jervik wusste das genau und legte es offenbar darauf an, Pazel in eine Prügelei zu verwickeln, etwa, indem er den Jüngeren Muketsch nannte. So hießen die Schlammkrabben in Ormael, Pazels Heimat, die er seit fünf Jahren nicht mehr gesehen hatte. Ormael war früher eine mächtige Stadtfestung gewesen, die sich auf hohen Klippen über einer herrlichen blauen Hafenbucht erhob. Eine Stadt voller Musik, geprägt von ihren Balkonen, erfüllt vom Duft reifer Pflaumen, eine Stadt, deren Name so viel wie ›Schoß des Morgens‹ bedeutete – aber diese Stadt gab es nicht mehr. Und Pazel kam es so vor, als wäre es den meisten Menschen lieber gewesen, er wäre mit ihr verschwunden. Schon seine Anwesenheit bedeutete für das arqualische Schiff eine gelinde Blamage, etwa wie ein Suppenfleck auf der Ausgehuniform des Kapitäns. Nachdem Jervik diesen glorreichen Einfall gehabt hatte, waren die anderen Jungen und sogar einige von den Matrosen nun ebenfalls dazu übergegangen, ihn Muketsch zu nennen. Immerhin sprachen sie das Wort nicht ohne Respekt, ja mit einer gewissen Vorsicht aus: Die Seeleute hielten die grünen Krabben, von denen Ormaels Sümpfe nur so wimmelten, für verzaubert und hüteten sich, sie zu zertreten, weil sie glaubten, das bringe Unglück.
    Dieser Aberglaube hatte Jervik und seine Bande freilich nicht daran gehindert, Pazel hinter dem Rücken des Kapitäns zu schlagen oder ihm ein Bein zu stellen. Und in der letzten Woche war es noch schlimmer geworden: Jetzt fielen sie unter Deck in dunklen Ecken zu zweit und zu dritt mit einer Brutalität über ihn her, wie er sie bisher nicht erlebt hatte. Vielleicht töten sie mich tatsächlich (wie sollte man mit solchen Gedanken im Kopf noch arbeiten, essen und atmen?). Vielleicht versuchen sie es heute Abend. Vielleicht hetzt Jervik sie dazu auf.
    Die letzte Runde war an Pazel gegangen: Jervik wagte es tatsächlich nicht, vor Zeugen auf ihn einzustechen. Aber was im Dunkeln geschah, war eine andere Sache: Im Dunkeln tat man manchmal Dinge wie in einem Rausch, auf den man sich hinterher hinausreden konnte.
    Zum Glück war Jervik nicht besonders hell im Kopf. Er war auf hinterhältige Art gerissen, aber andere zu misshandeln machte ihm so viel Vergnügen, dass er oft unvorsichtig wurde. Früher oder später wurde Nestef ihn sicherlich vom Schiff jagen. Doch bis dahin durfte sich Pazel nicht in die Enge treiben lassen. Das war ein Grund, warum er es gewagt hatte, in die Wanten zu klettern. Der zweite Grund war, dass er die Chathrand sehen wollte.
    Denn heute wäre es endlich so weit – heute könnte er die Chathrand betrachten, das größte Schiff der ganzen Welt, mit dem Großmast, der so dick war, dass drei Matrosen ihn kaum umspannen konnten, mit den mannshohen Hecklaternen und den Rahsegeln, die mehr Fläche hatten als der Königinpark in Etherhorde. Sie wurde gerade seeklar gemacht für eine Reise über das offene Meer, eine große Handelsfahrt über die Grenzen des Reiches hinaus. Vielleicht wurde sie nach Noonfirth segeln, wo die Menschen schwarz waren; oder zu den Äußeren Inseln vor der Herrschersee; oder zu den von Kriegen verwüsteten Herrenlosen Landen. Seltsamerweise konnte ihm das niemand sagen. Aber jetzt war fast alles bereit.
    Pazel wusste es, denn er hatte seinen kleinen Beitrag dazu geleistet. Zwei Mal in ebenso vielen Nächten waren sie hier in der dunklen Bucht von Sorrophran an eine Flanke der Chathrand herangesegelt. Beide Nächte waren wolkenverhangen und mondlos gewesen, und Pazel hatte
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