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Windkämpfer

Windkämpfer

Titel: Windkämpfer
Autoren: Robert Redick
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ohnehin bis zur Ankunft im Frachtraum zu tun gehabt. Als er endlich an Deck kam, hatte er nur eine schwarze, gewölbte Wand mit einer Kruste aus Algen, Schnecken und Muscheln so scharf wie abgebrochene Messerklingen gesehen, die nach Pech, altem Holz und hoher See roch. Dann hatte er von oben Männerstimmen gehört, und gleich darauf war mit einem mächtigen Ladebaum eine Plattform auf das Deck der Eniel herabgelassen worden. Darauf wurden Säcke mit Reis, Gerste und hartem Winterweizen gestellt. Dann kamen Bretter, gefolgt von Kisten mit Mandarinen, Berberitzenfrüchten, Feigen, Salzdorsch, gepökeltem Wildfleisch, Brennholz und Kohle; und schließlich Kohlköpfe, Kartoffeln, Yams, Knoblauch in Zöpfen und steinharte Käseräder. Nahrungsmittel in atemberaubenden Mengen: Proviant für sechs Monate ohne Landgang. Welches Ziel das Große Schiff auch ansteuerte, es hatte eindeutig nicht die Absicht, sich vor Ort versorgen zu lassen.
    Wenn die Plattform nichts mehr fassen konnte, fuhr der Ladebaum wie von Zauberhand nach oben. Einige von den älteren Jungen griffen in die Seile und ließen sich lachend fünfzig, sechzig Fuß weit emporziehen und über die ferne Reling schwingen. Wenn sie auf der leeren Plattform zurückkehrten, hatten sie blanke Münzen und Naschwerk dabei, die sie von der unsichtbaren Besatzung bekommen hatten. Die Geschenke reizten Pazel nicht, aber er war besessen von dem Wunsch, das Deck der Chathrand zu sehen.
    Schiffe waren jetzt sein Leben. Er hatte kaum zwei Wochen an Land verbracht, seit Arqual vor fünf Jahren seine Heimat geschluckt hatte. Als der Ladebaum vergangene Nacht zum letzten Mal nach oben stieg, hatte er alle Bedenken über Bord geworfen und eines der Seile gepackt. Doch Jervik hatte ihm mit Gewalt die Finger aufgebogen und ihn weggestoßen, sodass er mit lautem Getöse auf dem Deck der Eniel landete.
    Heute beförderte das kleine Schiff freilich keine Fracht, nur drei Passagiere: schweigsame Gestalten in Matrosenmänteln, die nur für diese eine Nacht von Besq nach Sorrophran mitfuhren. Als nun die blauen Gaslaternen der Schiffswerften von Sorrophran in Sicht kamen, drängten die drei nach vorne und konnten es offenbar ebenso wie Pazel kaum erwarten, einen Blick auf das sagenumwobene Schiff zu werfen.
    Ein Fahrgast versetzte Pazel in höchste Erregung: Doktor Ignus Chadfallow, ein schlanker Mann mit sorgenvollem Blick und großen Gelehrtenhänden. Chadfallow, kaiserlicher Leibarzt und berühmter Wissenschaftler, hatte einst den Kaiser und seine berittene Leibgarde vom tödlichen Faselfieber geheilt, indem er Männer wie Pferde sechs Wochen lang auf eine Fastenkost aus Hirse und Backpflaumen setzte. Außerdem hatte er Pazel im Alleingang vor der Sklaverei bewahrt.
    Die drei Passagiere waren bei Sonnenuntergang an Bord gekommen. Alle Teerjungen hatten versucht, sich mit Drängeln und Schubsen einen Platz an der Reling zu ergattern, vielleicht bot sich ja die Gelegenheit, für ein oder zwei Münzen einen Schrankkoffer schleppen zu dürfen. Als Pazel den Doktor entdeckte, war er hochgesprungen und hatte ihm zugewinkt. Beinahe hätte er auch noch ›Ignus!‹ gerufen, doch Chadfallow hatte ihm einen so finsteren Blick zugeworfen, dass ihm der Gruß in der Kehle stecken geblieben war.
    Während Nestef seine Passagiere willkommen hieß, versuchte Pazel vergeblich, den Blick des Arztes auf sich zu ziehen. Als der Koch ›Teerjunge!‹ rief, sprang er vor allen anderen die Leitertreppe hinunter, denn Nestef pflegte neue Fahrgäste mit einer Tasse kochend heißen Gewürztees zu empfangen. An diesem Abend war das freilich nicht alles: Der Koch belud das Tablett obendrein mit Moschusbeerenkeksen, rotem Ingwerkonfekt und Lukka-Kernen, die man kaute, damit einem warm wurde. Pazel balancierte die Leckereien vorsichtig auf das Oberdeck und steuerte geradewegs auf Chadfallow zu. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals.
    »Bitte sehr«, sagte er.
    Chadfallow betrachtete die mondbeschienenen Felsen und Inselchen und schien ihn nicht gehört zu haben. Pazel sprach ihn noch einmal an, lauter diesmal, und jetzt schreckte der Arzt auf und drehte sich zu ihm um. Pazel lächelte seinen alten Wohltäter zaghaft an. Doch Chadfallows Stimme klang scharf.
    »Wo bleiben deine Manieren? Zuerst wird die Herzogin bedient. Nun mach schon!«
    Schamrot wandte Pazel sich ab. Die Kälte des Arztes schmerzte ihn mehr, als ein Fausthieb von Jervik es getan hätte. Nicht dass er allzu überrascht gewesen wäre: Es kam oft vor,
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