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Windbruch

Windbruch

Titel: Windbruch
Autoren: Elke Bergsma
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war’s mit der Tagträumerei. Er griff nach dem Hörer. „Hello,
Mr. Yamamoto, how are you doing today?“
    „Franziska, Sie sagten vorhin, es
sei ein Fax für mich gekommen?“, fragte Maarten, nachdem er das Gespräch nach
Japan beendet hatte und sich einen Kaffee aus dem Sekretariat holte. Früher
hatte er sich seinen Kaffee bringen lassen, aber bei Franziska hatte er aus
irgendeinem Grund Scheu, sie darum zu bitten. Und da sie es ihm auch nie
angeboten hatte, kümmerte er sich eben selbst darum. So blieb er schließlich
auch ein wenig in Bewegung.
    „Ja, schauen Sie mal. Ist das
nicht allerliebst?“ Franziska strahlte wie ein Christbaumengel.
    Neugierig nahm Maarten das Fax in
die Hand, warf einen Blick darauf – und sofort traten ihm Tränen der Rührung in
die Augen. Es war eine Kinderzeichnung. Zu sehen waren ein Deich mit einem
kleinen Leuchtturm darauf, rundherum irgendwelche Kugeln mit offensichtlich
vier Beinen. „Schafe“, murmelte er. „Wie bitte?“, fragte Franziska, die meinte,
nicht richtig verstanden zu haben. „Schafe, auf dem Bild sind Schafe“,
wiederholte Maarten und wischte sich verschämt eine Träne aus dem Augenwinkel.
„Außerdem ist da die See, es ist Ebbe, ein paar Möwen laufen im Watt. Und unten
drunter steht: Moin, Maarten . Mama und Papa heiraten, am 26. August
im Pilsumer Leuchtturm. Du bist herzlich eingeladen. Es ist von meiner
kleinen Nichte Jule aus Ostfriesland.“
    Als Maarten aufblickte, stellte
er fest, dass Franziska ihn mit einem unergründlichen Blick ansah. „Ja“, sagte
er, „ist ja schon gut. Ich weiß, was ich zu tun habe.“

2
    Wie lange war er nicht mehr in
seiner Heimat gewesen? Sechs Jahre oder gar sieben? Maarten wusste es nicht
mehr genau. Auf jeden Fall war es lange her, und er hatte auch nur einen Tag
und eine Nacht dort verbracht. Es war zur Beerdigung seines Großvaters gewesen,
an dem er als Kind sehr gehangen hatte. Die kleine Jule musste jetzt ungefähr
sieben Jahre alt sein. Wenn er sich richtig erinnerte, sollte sie gerade in die
Krabbelgruppe kommen, als er zum letzten Mal in Ostfriesland gewesen war. Jule
war die Tochter seiner älteren Schwester Wiebke. Inzwischen gab es auch noch
den kleinen Immo, Jules Bruder, aber den hatte Maarten noch nie gesehen.
    Ostfriesland. Maarten schaute
nachdenklich auf die Wolken unter sich, die wie riesige Watteknäuel über der
Erde schwebten und nur ab und zu mal einen Blick auf den darunter liegenden
Atlantik zuließen. Als leitender Ingenieur eines global tätigen Maschinenbauunternehmens
hatte er sich so an das schnelle und aufregende Leben im Jet-Set gewöhnt, dass
er nur noch selten an seine Heimatregion dachte. Ab und zu telefonierte er mal
mit seinen Eltern oder bekam eine E-mail von einer seiner Schwestern. Mit den
meisten Leuten, deren Namen in diesen Telefonaten und Schreiben genannt wurden,
konnte er zwar irgendwas anfangen. Aber genaugenommen hörte er den Geschichten
seiner Mutter um Geburten, Hochzeiten und Sterbefälle nur mit halbem Ohr zu. Er
führte sein eigenes Leben, und das hatte mit dem Leben seiner Eltern und
Geschwister nichts gemeinsam.
    Gleich nach dem Abitur hatte er
sich ganz bewusst dafür entschieden, nach dem Zivildienst in München Luft- und
Raumfahrttechnik zu studieren. Ostfriesland war ihm immer zu eng gewesen. Er
wollte mitten im Leben stehen, und das, so hatte er damals gedacht, fand
überall statt, nur nicht in dem flachen Landstrich an der Nordsee. So war er
also nach München gegangen, dann für ein paar Semester nach London und zur
Doktorarbeit nach Detroit. Endlich hatte er das Gefühl gehabt, frei atmen zu können,
hatte sie genossen, die Anonymität der Großstadt. Mit seiner Karriere als Ingenieur
war es dann steil bergauf gegangen, in einem Tempo, das ihn noch heute manchmal
schwindeln ließ. Ja, er hatte viel erreicht. Beruflich. Und privat? Sein Privatleben
hatte er praktisch mit seiner gerahmten Promotionsurkunde an den Nagel gehängt,
im Büro, über den Schreibtisch. Aber genauso wenig, wie er im Grunde diese
Urkunde jemals in Augenschein nahm, dachte er darüber nach, was alles anders
wäre, wenn er neben seinem Job auch noch eine Familie gehabt hätte. Das Thema
Familienplanung hatte er niemals ernsthaft in Erwägung gezogen, alleine schon
deshalb, weil es mit seinem Job unvereinbar gewesen wäre. Absolut unvereinbar.
Und der Job ging vor. Immer.
    Doch obwohl er eigentlich
überzeugt war, dass er sich mit seinem jetzigen Leben den größten Wunsch
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