Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wind & Der zweite Versuch

Wind & Der zweite Versuch

Titel: Wind & Der zweite Versuch
Autoren: Marcus Hammerschmitt
Vom Netzwerk:
würde. Eddie hatte sich hier einen Platz ergattert, mitten im Nichts, zusammen mit Niemand, und das war ihm gerade recht gewesen. Er hatte sich unterhalten lassen vom Netspace, virtuelle Simulationen von diesem und jenem, Geschichtskurse über die Etrusker, Karatelektionen in der TeleSensehaut. Er war allein gewesen mit dem Wind, den Vogelkadavern und den elektronischen Geistern, die sich in seiner Satellitenantenne verfangen hatten, chinesisches Fernsehen, wenn es sein mußte, und die kranken Ausschweifungen eines englischsprachigen Funkers aus Ouagadougou über das baldig bevorstehende Ende der Welt (Eddies Englisch hatte sich in den letzten fünf Jahren enorm verbessert). Er hatte an Land einen Versuch mit einer Frau gemacht, es war ein Versuch geblieben. Seitdem hatte er Landurlaub erst anschreiben und dann verfallen lassen. Das konnte er alles vergessen. Er mußte hier weg. Schnell. Seine Panik pendelte sich auf einem Angstlevel bei Punkt acht der Richterskala ein, und er brauchte einige verschwitzte Minuten, bis er das graue Kästchen wiederfand, mitten auf dem Küchentisch liegend. Er kämpfte gegen das Bedürfnis an, Brauners Leiche über die Bordwand fallen zu lassen, hoffentlich hatte er ein Gift genommen, das sich auch nachweisen ließ. Eddie versperrte die Tür zur Gästekajüte doppelt, nachdem er sich vergewissert hatte, daß das Bullauge dort geschlossen war. Dazu mußte er noch einmal über die Leiche Brauners hinwegsteigen, und er hätte beinahe noch einmal gekotzt.
     
    Er mußte sich also beeilen. So schnell ging das mit der Beeilung aber nicht. Wenn man von den Versorgungsläufern und den Stimmen der anderen Plattformer absah, war Brauner der erste gewesen, mit dem er seit langem in Echtzeit gesprochen hatte. Wenn man es genau nahm, war seine letzte wirkliche Unterhaltung davor ein Streitgespräch mit einer Frau gewesen, an deren Namen er sich nur ungern erinnerte. Falsch: er hatte auch einmal versucht, mit dem Funker aus Ouagadougou in Kontakt zu kommen, der sich dabei als der Betriebsleiter eines kleinen Versuchskernreaktors herausstellte, aber das Gespräch mit dem Kollegen war herzhaft kurz gewesen, der Mann behauptete, seine Weltuntergangsphantasien seien »poetry«, und er wolle beim Dichten nicht gestört werden. Also Tina. Emden. Er wollte nicht ganz nackt in die Welt der Menschen treten, also nahm er seine beiden Gewehre und schnitt sie klein. Der Laser machte sowohl mit dem Stahl der Läufe als auch mit dem Holz der Schäfte kurzen Prozeß, von dem brenzligen schmorenden Holz mußte er allerdings niesen. Die Waffen paßten knapp in die großen Taschen seiner Jeansjacke, aber sie baumelten schwer und ungemütlich darin hin und her, egal, Holster konnte er sich nicht auch noch nähen. Jeweils zwanzig Schuß Munition und das graue Kästchen belasteten seinen Rucksack, er vergaß auch die Zahnbürste nicht. Auf die Deckelklappe des Rucksacks war eine gezeichnete Kuh aufgedruckt, die vor Freude in die Luft sprang. »Killermäßig«, dachte Eddie. Er packte sein ganzes Ersatzgeld ein, Plastikkärtchen in Visitenkartengröße mit den Intarsien der europäischen Zentralbank. Man rümpfte zwar über dieses Geld, das der Überbrückung von Chipkarten- und Scannerdefekten diente, allgemein die Nase, aber gültig war es doch. Was gab es dann noch zu tun? Nicht viel. Er sah sich noch einmal in seiner Kajüte um. Dort war alles wie unbenutzt. Holzboden, Feldbett, Elektronik zur Unterhaltung und zur Überwachung der Windräder, rote Dioden, grüne Dioden. Das Plakat mit dem chinesischen Schriftzeichen an der Wand, dessen Bedeutung er nie herausgefunden hatte. Er überlegte sich, ob er die Rotoren einziehen sollte. Wenn er das tat, würde Josina zwei Stunden später Alarm grün nach Hamburg senden, in der norddeutschen Kleinstadt würden wasserstoffgetriebene Notstromaggregate anspringen, und drei Stunden später wären sie hier, auf Tragflügelbooten, um genauer nachzusehen. Wenn er die Rotoren ausgefahren ließ, konnte heute nacht ein Sturm sie abreißen, beim Preis von 500.000 pro individuell gefertigtem Dünnfilmrotorblatt eine trübe Aussicht für seine weitere Karriere. Er sah sich den Wetterbericht an. Der Wetterbericht sagte für diese Nacht klaren Himmel und Windstärke drei voraus. Er entschied sich zu einem Kompromiß. Er gab dem Computer den Auftrag, ab 1800 stufenweise die Rotorblätter einzuziehen, wie bei einer Routineabschaltung zur Turbinenwartung. Das würde ihm etwa noch einmal drei
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher