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Wilsberg 15 - Wilsberg und die Malerin

Wilsberg 15 - Wilsberg und die Malerin

Titel: Wilsberg 15 - Wilsberg und die Malerin
Autoren: Juergen Kehrer
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dass sie meinem Aussehen oder meinem Charme verfallen war, dafür waren der soziale und der Altersunterschied einfach zu groß. Ihr Anruf musste mit meinem Job zusammenhängen. Möglicherweise würde ich ja doch noch erfahren, was an dem Bildnis des Walter Egli so wertvoll war.
    »Einnachten«, sagte Nora Gessner und schaute in den dunkler werdenden Himmel. »Ist das nicht ein schönes Wort?«
    »Doch«, stimmte ich zu und schaute ebenfalls zum Himmel. »Bei uns geht die Sonne unter, es dämmert oder die Nacht bricht herein. Aber einnachten hat schon was.«
    »Helvetismen«, fuhr die Tochter des Bankdirektors fort, »sind Schweizer Hochdeutsch, kein Dialekt. Seit etlichen Jahren pflegen wir unsere sprachlichen Eigenheiten. Wir spannen Fixleintücher über die Matratze, essen Ruchbrot und überqueren auf einer Passerelle den Fluss. Ganz zu schweigen von Dispositiven und Vernehmlassungen.«
    Unter den schweren Holzplanken, auf denen unser Tisch stand, plätscherten sanft die Wellen des Zürichsees. Es war immer noch angenehm warm, die Luft samtweich und ohne jeglichen Windhauch. Nora Gessner hatte eine Goldbrasse bestellt. Der Kellner hatte uns den Fisch in gebratenem Zustand vorgeführt und ihn dann in jeweils zwei Portionen serviert. Wir tranken Wein und redeten über die Schweiz und die Welt. Mit keinem Wort war meine Gastgeberin auf den Anlass unseres Treffens zu sprechen gekommen.
    Ich nahm einen Schluck von meinem Espresso und zündete mir eine Zigarre an. Es gab keinen Grund, sie zu drängen. Ich genoss das Essen, den Abend und ihre Gesellschaft.
    Hinter meinem Rücken knallte es. Ich drehte mich um und sah, dass auf der gegenüberliegenden Uferseite ein Feuerwerk in den Himmel stieg.
    Noras Gesichtszüge wurden weich und verträumt. »Perfekte Momente«, flüsterte sie. »Nur in Zürich gibt es solche perfekten Momente.«
    Ein Gefühl sagte mir, dass ich nicht Teil der Perfektion war. Wahrscheinlich gab es einen anderen, mit dem der Moment noch perfekter gewesen wäre.
    Sie wandte ihren Blick vom Feuerwerk ab und schaute mich an. »Sie wollen sicher wissen, warum mein Vater so viel Geld für das Bild bezahlt hat.«
    »Ich habe darüber nachgedacht«, gab ich zu. »Es wäre ein Leichtes für ihn gewesen, die Diebe verhaften zu lassen.«
    »Das wollte er aber nicht.«
    »So weit bin ich in meinen Überlegungen auch schon gekommen.«
    »Wer hat Ihnen das Bild übergeben?«, fragte Nora.
    »Ein junger Mann und eine junge Frau«, antwortete ich.
    »Die junge Frau ist meine kleine Schwester. Lena.«
    Ich zog an der Zigarre und blies Rauch in die Luft. »Warum hat sie das Bild gestohlen?«
    Nora seufzte. »Das ist eine lange Geschichte.«
    »Ich habe Zeit«, sagte ich.
    »Sie ist ... Es hat angefangen, als sie zwölf war. Sie benahm sich unmöglich, reagierte auf jede noch so freundliche Kritik mit einem Wutausbruch, rebellierte einfach gegen alles. Sie wusch sich wochenlang nicht, trug immer dieselben dreckigen Kleider, rasierte sich den Kopf, hörte nächtelang laute Musik, tat nichts mehr für die Schule. Kurz gesagt: Sie wurde unerträglich.«
    »Ist das nicht normal – in dem Alter?«, warf ich ein. Ich dachte an meine Tochter Sarah, die kurz vor der Pubertät stand. Vielleicht würde ich bald Ähnliches erleben.
    »Das hat mein Vater auch angenommen. Er hat sehr viel Verständnis für Lena aufgebracht, sie immer rücksichtsvoll behandelt, auch wenn sie von der Polizei nach Hause gebracht wurde. Sie müssen wissen ...«, Nora stockte, »... meine Mutter war ein Jahr zuvor gestorben. Wir dachten, sie hätte den Verlust nicht ertragen.«
    Ich nickte. »Klingt logisch.«
    »Aber es wurde nicht besser«, redete Nora weiter. »Lena änderte sich nicht mehr, sie blieb bei ihrer Haltung. Im Gegenteil: Ihr Verhalten wurde zunehmend unkontrollierbar. Ihre schulischen Leistungen verschlechterten sich rapide, manchmal verschwand sie tagelang, dann kamen Alkohol und vermutlich auch Drogen hinzu, oft wirkte sie stundenlang völlig geistesabwesend. Dreimal wurde sie wegen Diebstählen festgenommen. Sie stahl immer nur kleine Sachen, CDs, Modeschmuck, dabei bekam sie von meinem Vater genug Geld. Schließlich sah er ein, dass es so nicht weiterging, und schickte sie auf ein Internat. Kein Eliteinternat, sondern ein Internat für schwer erziehbare Jugendliche. Die Lehrer und Erzieher dort waren erfahrene Pädagogen. Nach drei Monaten wurde sie von der Schule verwiesen. Nicht sozialisierbar, lautete die Diagnose. Meinem Vater
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