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Wilsberg 05 - Wilsberg und die Wiedertaeufer

Wilsberg 05 - Wilsberg und die Wiedertaeufer

Titel: Wilsberg 05 - Wilsberg und die Wiedertaeufer
Autoren: Juergen Kehrer
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Sie hatte ein langes Gesicht mit einem verkniffenen Mund und übernächtigten Augen. Die blondgesträhnten Haare hingen kraftlos auf den grauen Rollkragenpulli.
    »Nein. Wir haben noch keine Spur. Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich mich gerne in seinem Zimmer umsehen.«
    Sie rührte sich nicht vom Fleck. »Aber wozu? Das habe ich doch alles mit Frau Bach besprochen.«
    »Ich weiß. Es geht nur darum … Wir haben möglicherweise etwas übersehen.«
    »Na schön.« Sie machte den Eingang frei. »Wenn's hilft, Andreas wiederzufinden.«
    Sie war groß und wirkte auf eine maskuline Art kräftig. Ich tippte auf einen regelmäßigen Diätplan und Problemzonentraining in einem Gesundheitscenter. Jedenfalls schaffte sie die enge Wendeltreppe mit erheblich mehr Leichtigkeit als ich.
    Andreas' Zimmer hatte eine Dachschräge, ein kleines Fenster, das den Blick auf den eigenen und ein Dutzend anderer Gärten gestattete, und war mit den üblichen bunten Postern zugehängt. Das heißt, die Poster zeigten keine Metal-Trash- oder andere Musiker-Größen, sondern den Neo-Satanisten Alex Crowley, ein Wald-Ritual mit schwarzen Kapuzen-Männern und eine wie ein Festessen auf einem Steintisch drapierte nackte Frau, die von brennenden Kerzen umgeben war.
    Frau Kleine-Schüttringhaus, die meinen erstaunten Blick bemerkte, zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, woher er seine sonderbaren Interessen hat. Von uns jedenfalls nicht. Wir sind zwar keine gläubigen Christen, aber das da …«, sie zeigte auf die nackte Frau, »… finde ich einfach nur widerlich.«
    »Siebzehnjährige machen gerne Sachen, die ihre Eltern widerlich finden«, gab ich zu bedenken. »Hat Andreas mal was über die Wiedertäufer erzählt?«
    »Ist das auch so eine Sekte?«
    »Nein. Ich meine: Ja. Aber sie ist seit dem sechzehnten Jahrhundert nicht mehr aktiv.«
    »Wenn die nicht Hähnen die Köpfe abschlagen oder mit Geistern reden, glaube ich kaum, dass Andreas sich für sie interessiert.«
    Sie nahm ein staubbedecktes Tarotspiel vom Regal und blätterte die Karten auf.
    »Frau Kleine-Schüttringhaus«, setzte ich vorsichtig an.
    »Ja?«
    »Wann haben Sie das letzte Mal mit Andreas gesprochen?«
    Sie warf die Karten achtlos auf den Schreibtisch. »Wie meinen Sie das?«
    »Richtig geredet. Alles, was über ›Hast du deine Schularbeiten gemacht?‹ und ›Wann kommst du heute Abend zurück?‹ hinausgeht.«
    Ihre Augen bekamen einen Schleier. »Zum letzten Mal versucht habe ich es vor zwei Monaten. Es war zwecklos. Andreas steht seinem Vater sowieso näher als mir. Ich bin nicht seine richtige Mutter, wissen Sie. Aber das ist es nicht. Er huldigt diesem Macho-Kult und -Gehabe. Da passen Frauen einfach nicht rein. Es sei denn …«, sie streckte ihr Kinn in Richtung der nackten Frau, »… als Opferlamm.«
    »Dann war es sicher die Idee Ihres Mannes, uns zu beauftragen?«
    Der Schleier verschwand, und ihre Augen blitzten auf. »Andreas ist mir nicht gleichgültig, wenn Sie das meinen. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass ich zu ihm durchdringen kann.«
    »Mama!«, schrie das Mädchen von unten.
    »Sie kommen alleine zurecht, nehme ich an. Und lassen Sie bitte alles so, wie es ist!«
    »Ja, natürlich«, sagte ich.
    Die Frau war mir nicht unsympathisch, aber ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass mein Charme bei ihr überhaupt nicht ankam.
    Nachdem ich mich ausgiebig im Genick gekratzt hatte, bemerkte ich, dass es in dem Raum empfindlich kalt war. Also drehte ich die Heizung auf und setzte mich an den Schreibtisch. Obendrauf lagen ein paar Papiere, die nach Schule aussahen, und unter dem Fenster stand ein schwarzer Gettoblaster. Ich schaltete ihn ein. Als Radiohörer unterschied sich Andreas nicht vom Durchschnitts-Münsteraner. Aus den Lautsprechern seiherte der Dudelfunk des lokalen Kommerzsenders.
    Dann öffnete ich die oberste Schublade und packte den Inhalt auf die Schreibtischplatte. Eine Menge Fotos. Der auf fast allen vertretene Jüngling mit den braun gelockten Haaren musste wohl Andreas sein.
    Die anderen Schubladen brachten auch keine neuen Erkenntnisse. Ich stand auf und ging zu dem Bücherregal. Bei den Romanen dominierte das Fantasy-Genre. Auf den Schutzumschlägen häuften sich blond gelockte Siegfriede, die mit ihren Schwertern herumfuchtelten. In der Sachbuchabteilung gab es ein paar Bücher über das Mittelalter, dazu ein Werk über Tarot und eins über die geistigen Kräfte des Pendels, was man halt so liest als
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