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Wille zur Macht

Wille zur Macht

Titel: Wille zur Macht
Autoren: Joe Schlosser
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anlässlich des soeben begonnenen Nationalfeiertags handele, also keine Kämpfe in der Stadt stattfanden. So ganz konnte das die Brigadisten nicht beruhigen: Wild umherfliegende Geschosse von angetrunkenen Soldaten waren für sie ungewöhnlich und sehr beängstigend. Aber sie versuchten dennoch wieder einzuschlafen. Denn in wenigen Stunden wollten sie schon wieder aufstehen. Um fünf hatten sie sich mit anderen Internationalisten auf der Plaza España verabredet, von wo aus sie geschlossen zum Platz der Revolution marschieren wollten, auf dem die zentrale Kundgebung anlässlich des Nationalfeiertags stattfinden sollte. Und dort sollte auch Präsident Ortega eine Rede halten.
    Dunker schätzte, dass sie bis zu tausend Brigadisten waren, die jetzt den Platz der Revolution erreichten. Alle Hauptstraßen waren mit rot-weißen Fahnen geschmückt. Militär und Polizei patrouillierten. Die Photoapparate der Brigadisten wurden überprüft, um auszuschließen, dass es sich um getarnte Schussapparate handelte.
    Nach und nach füllte sich der Platz. An die fünfhunderttausend Menschen sollen es gewesen sein, wie der Eröffnungsredner in seiner Begrüßung sagte. Es wurde viel Musik gespielt, Märsche und Kampflieder. Die Brigaden aus den einzelnen Ländern wurden ebenso wie die internationalen Gäste begrüßt. Es war kochendheiß auf dem Platz, und die Luft wurde knapp. Vereinzelt waren schon einige Demonstranten ohnmächtig geworden und mussten aus der Menge abtransportiert werden. Und dann kam er endlich. Der, auf den alle gewartet hatten: der Präsident Nicaraguas, Daniel Ortega. Dunker verstand nicht viel von dem, was der Präsident sagte. Dazu reichten seine Spanischkenntnisse nicht aus. Aber er verstand, dass Ortega die Hetzkampagnen der USA gegen sein Land verurteilte. Und Ortega betonte, dass das revolutionäre Nicaragua keine internationalen Terroristen ausbilden würde, wie behauptet wurde.
    Obwohl Ortega in der Uniform der Revolutionäre auftrat, hatte er bei weitem nicht die Ausstrahlung und das Charisma eines Fidel Castro. Er wirkte eher nüchtern und technokratisch. Darüber täuschten auch seine laut geschrienen, politischen Parolen nicht hinweg, aber das hier versammelte Volk jubelte ihm zu. Es war ein sehr junges Volk, das sich hier auf dem Platz der Revolution versammelt hatte. Über die Hälfte der Bevölkerung Nicaraguas war unter sechzehn Jahre alt. Diese jungen Leute erhofften sich eine bessere und gerechtere Zukunft von ihrem Präsidenten. Einen anderen hatten sie nicht, der sich auf ihre Seite gestellt hatte. Die Menschen waren zum ersten Mal verantwortlich eingebunden in ihre Gesellschaft. Sie kümmerten sich in ihren   barrios , den Stadtteilen Managuas, um Hygiene und Gesundheitsvorsorge, um Bildung und die Bekämpfung von Kriminalität. Und in den Komitees zur Verteidigung der Revolution traten sie für den Erhalt ihres Einflusses ein. Hier war Jugend überall ernsthaft beteiligt und vertreten. Hier konnten sie mitwirken bei der Realisierung einer neuen und gerechteren Welt. Ganz anders als zu Hause in Deutschland, dachte sich Dunker, mit dem seiner Meinung nach elenden System der Volksvertreter, die sich immer weiter von diesem entfernten.
    Dann wurde es laut über den Köpfen der Menge. In Formation rasten mehrere Kampfhubschrauber über sie hinweg. Eine perfekte Inszenierung. Gerade hatte Präsident Ortega verlauten lassen, dass die Sowjetunion dem Land diese Kampfhubschrauber geschenkt hatte, um die Konterrevolutionäre aufzuhalten. Und nun wurden sie dem Volk präsentiert. Was Ortega nicht erwähnte, war, dass die Sowjetunion seinem Wunsch nach Kampfbombern nicht nachgekommen war. Ein Zeichen dafür, dass die Sowjetunion wegen Nicaragua die USA nicht unnötig provozieren wollte.
    Dunker wurde es bald zu heiß. Er merkte, wie ihm flau wurde und sein Kreislauf absackte. Die Menge um ihn herum raubte ihm langsam aber sicher die Luft zum Atmen. Er drängelte sich durch die Menschenmassen nach hinten und versuchte irgendwo einen schattigen Platz zu erreichen. Er benötigte fast eine halbe Stunde, bis er den Platz der Revolution hinter sich lassen konnte. Unter einem Baum am Straßenrand stand ein Händler mit einem Holzkarren voller Eis und bot gekühlte Cola an. Dunker griff guten Gewissens zu, denn der nicaraguanische Ableger des Coca-Cola-Konzerns war erst vor kurzem verstaatlicht worden, nachdem sich herausgestellt hatte, dass Coca-Cola die Contra finanziell unterstützte. So stand es
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