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Wildwood

Wildwood

Titel: Wildwood
Autoren: Colin Meloy
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Kliff
überflogen und schraubten sich in den Himmel wie eine zitternde, schwarze Tornadowolke, einzig und allein begleitet von dem Rauch, der von den Schmelzhütten und Schornsteinen des Industriegebiets aufstieg, dem Niemandsland auf der anderen Seite des Flusses, das vor langer Zeit von den örtlichen Industriebaronen in eine abweisende Landschaft aus Qualm und Stahl verwandelt worden war und das nun von allen nur noch »Industriewüste« genannt wurde. Unmittelbar dahinter erstreckte sich, so weit das Auge reichte, ein riesiges Gebiet dicht bewaldeter Hügel. Prue erbleichte.
    »Nein«, flüsterte sie.
    Ohne einen einzigen Laut erreichte der Krähenschwarm im Nu das jenseitige Flussufer und verschwand in einer langen, schmalen Kolonne in der Finsternis dieser Wälder. Ihr Bruder war in die Undurchdringliche Wildnis verschleppt worden.

ZWEI
Die Undurchdringliche Wildnis einer Stadt
    S eit Prue denken konnte, prangte in der Mitte jeder Landkarte, die sie jemals von Portland und Umgebung gesehen hatte, ein großer dunkelgrüner Fleck: Er erstreckte sich wie Moos von der nordwestlichen Ecke bis in den Südwesten und war mit den geheimnisvollen Buchstaben »U. W.« beschriftet. Sie war nie auf die Idee gekommen, danach zu fragen, bis zu jenem Abend, noch vor Macs Geburt, an dem sie mit ihren Eltern im Wohnzimmer gesessen
hatte. Ihr Vater hatte einen neuen Atlas mit nach Hause gebracht, und nun hatten sie sich in den Lesesessel gekuschelt, blätterten durch die Seiten, zeichneten mit den Fingern Grenzlinien nach und lasen einander die exotischen Städtenamen entlegener Länder vor. Als sie bei einer Landkarte von Oregon ankamen, deutete Prue auf die kleine eingefügte Karte von Portland und stellte die Frage, die sie schon lange im Stillen beschäftigt hatte: »Was bedeutet U. W.?«
    »Nichts, Schätzchen«, lautete die Antwort ihres Vaters. Dann schlug er wieder die Russlandkarte auf, die sie kurz zuvor betrachtet hatten, und malte mit dem Finger einen Kreis auf den weiten nordöstlichen Teil des Landes, wo sich das Wort Sibirien quer über das Papier zog. Dort gab es keine Städtenamen und kein Netz aus gewundenen gelben Linien, das Straßen und Wege markierte. Nur ausgedehnte Pfützen in allen möglichen Grün- und Weißtönen und hier und da einen schnörkeligen blauen Strich, der die zahllosen abgeschiedenen Seen miteinander verband, die die Landschaft sprenkelten. »Es gibt Orte auf der Welt, an denen sich einfach keine Menschen niedergelassen haben. Vielleicht ist es dort zu kalt oder der Wald ist zu dicht oder die Berge sind zu steil. Aus welchem Grund auch immer, niemand wollte dort eine Straße bauen, und ohne Straßen gibt es keine Häuser und ohne Häuser keine Städte.« Jetzt blätterte er wieder zu der Portland-Karte und tippte mit dem Finger auf das »U.W.«. »Das heißt › Undurchdringliche Wildnis‹. Und genau das ist es auch.«

    »Warum lebt dort niemand?«, fragte Prue.
    »Aus den gleichen Gründen, warum niemand in Sibirien wohnt. Als die Siedler neu in diese Gegend kamen und anfingen, Portland zu bauen, wollte dort niemand sein Haus haben: Der Wald war zu dicht und die Berge zu steil. Und da es dort keine Häuser gab, dachte niemand daran, eine Straße zu bauen. Und ohne Straßen und Häuser blieb einfach alles genau so, wie es war: menschenleer. Im Laufe der Zeit verwilderte die Gegend immer stärker und wurde noch unwirtlicher. Und daher«, erzählte er, »wurde sie die Undurchdringliche Wildnis getauft, und jeder machte wohlweislich einen Bogen darum.« Ihr Vater fegte mit einer wegwerfenden Handbewegung über die Karte und klemmte dann Prues Kinn sanft zwischen Daumen und Zeigefinger. Er zog ihr Gesicht dicht an seines heran und sagte: »Und ich möchte, dass du dort nie, nie hingehst.« Scherzhaft bewegte er ihren Kopf auf und ab und lächelte. »Hast du mich verstanden, mein Kind?«
    Prue zog eine Grimasse und riss ihr Kinn los. »Ja, ich hab dich verstanden.« Dann blickten sie beide wieder in den Atlas, und Prue lehnte den Kopf an die Brust ihres Vaters.
    »Das meine ich ernst«, sagte er. Sie spürte, wie seine Brust sich unter ihrer Wange anspannte.
    Seitdem wusste Prue, dass sie sich von dieser Undurchdringlichen Wildnis fernzuhalten hatte, und so behelligte sie ihre Eltern auch nur noch ein einziges Mal mit Fragen darüber. Trotzdem
konnte sie diese Sache nicht einfach so vergessen. Denn während in der Innenstadt immer mehr Hochhäuser aus dem Boden schossen und an den
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