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Wildwood

Wildwood

Titel: Wildwood
Autoren: Colin Meloy
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Schindelhäusern dahin, polterten über Bordsteinkanten und schlingerten um Pfützen herum, sodass Macs Wägelchen beinahe umkippte. Die Reifen gaben ein zufriedenes Schschschsch von sich, als sie über den nassen Asphalt pflügten.
    Der Vormittag war mit den verschiedensten Erledigungen im Nu verflogen – eine Levi’s Jeans von nicht ganz der richtigen Farbe
wurde umgetauscht, ein Blick in den Secondhand-Plattenladen um die Ecke geworfen, und in einem mexikanischen Imbiss teilten sich die Geschwister unter viel Geklecker eine vegetarische Tostada. Der Nachmittag war angenehm warm, und so saß Prue draußen vor dem Café auf der Hauptstraße, während Mac friedlich in seinem roten Anhänger schlummerte. Behaglich schlürfte sie heiße Milch und beobachtete durch das Fenster die Angestellten des Cafés, die sich ungeschickt damit abmühten, einen Elchkopf vom Flohmarkt an der Wand aufzuhängen. Auf der Lombard Street brummten die Autos vor sich hin, als erste Vorboten des bald einsetzenden Abendverkehrs in diesem gemächlichen Stadtviertel. Einige Passanten gurrten dem schlafenden Kind im Anhänger zu, und Prue lächelte schief, etwas genervt davon, zusammen mit ihrem Bruder so was wie ein Bilderbuch-Geschwisterpaar abzugeben. Gedankenlos kritzelte sie in ihr Skizzenbuch: den von Laub verstopften Gully vor dem Café, Macs stilles Gesichtchen, zwar etwas unscharf, dafür mit extra Augenmerk auf den dünnen Rotzfaden, der aus seinem linken Nasenloch tropfte. So war der Nachmittag vor sich hingeplätschert – bis Mac aufwachte und Prue aus ihrer Trance riss. »Also gut«, sagte sie und nahm ihren Bruder auf den Schoß, der sich den Schlaf aus den Augen rieb. »Machen wir uns wieder auf den Weg. Zur Bücherei?« Mac schob verständnislos die Lippen vor.
    »Na dann, zur Bücherei.«
    Mit quietschenden Reifen kam Prue vor der Stadtteilbibliothek
von St. Johns zum Stehen und schwang sich vom Fahrradsattel. »Lauf nicht weg«, sagte sie zu Mac und griff sich den kleinen Bücherstapel aus dem Anhänger. Dann trabte sie in die Eingangshalle, stellte sich vor den Rückgabeschlitz und sah die Bücher in ihrer Hand durch. Plötzlich hielt sie inne und seufzte: der Vogelführer von David Sibley. Trotz aller Mahnungen und Drohbriefe der Bibliothekare hatte sie ihn seit mittlerweile drei Monaten ausgeliehen, ehe sie sich schließlich dazu durchringen konnte, ihn zurückzugeben. Betrübt blätterte Prue durch die Seiten. Sie hatte Stunden damit verbracht, die wunderschönen Illustrationen abzuzeichnen, während sie gleichzeitig die fantastischen, exotischen Vogelnamen wie leise Zauberformeln vor sich hin flüsterte: Kieferntangare. Nachtschwalbe. Graubauchsegler. Die Namen beschworen Bilder von erhabenen Landstrichen und weit entfernten Orten herauf, von stillen Sonnenaufgängen in der Prärie und Vogelnestern in dunstigen Baumwipfeln. Ihr Blick wanderte von dem Buch in ihrer Hand zur Dunkelheit des Rückgabeschlitzes und zurück. Sie zog den Kopf ein, murmelte: »Ach, was soll’s«, und schob das Buch wieder in ihre Jacke. Dann würde sie den Zorn der Bibliothekare eben noch eine weitere Woche aushalten.
    Mittlerweile war draußen eine alte Frau vor dem Anhänger stehen geblieben, die mit gerunzelter Stirn angestrengt nach dessen Besitzer Ausschau hielt. Mac kaute zufrieden auf dem Kopf der Holzschlange herum. Prue verdrehte die Augen, holte tief Luft und
stieß die Tür der Bücherei auf. Als die Frau sie entdeckte, wedelte sie mit einem knotigen Finger in ihre Richtung und polterte los: »Ent schul digung, junges Fräulein! Das ist sehr gefährlich! Ein kleines Kind ganz allein zu lassen! Wissen seine Eltern, wie auf den Jungen aufgepasst wird?«
    »Was, der da?«, fragte Prue, während sie aufs Fahrrad stieg. »Der arme Wurm hat keine Eltern. Ich hab ihn in der Zu-verschenken-Kiste der Bücherei gefunden.« Mit einem breiten Lächeln stieß sie sich vom Bürgersteig ab und fuhr los.
    Der Spielplatz war leer, als sie ankamen. Prue wickelte Mac aus seinen vielen Schichten und setzte ihn neben den abgekoppelten Anhänger. Er fing gerade an zu laufen und nutzte fröhlich jede Gelegenheit, sein Gleichgewicht zu trainieren. Glucksend und grinsend klammerte er sich an dem Wägelchen fest und schob es langsam watschelnd über den Spielplatz. »Tob dich aus«, sagte Prue, setzte sich auf die Parkbank, zog Sibleys Vogelführer aus der Jacke und schlug die Seite über Lerchenstärlinge auf, die sie mit einem Eselsohr markiert hatte.
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