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Wildwood

Wildwood

Titel: Wildwood
Autoren: Colin Meloy
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Ausfallstraßen der Vororte nagelneue Einkaufszentren entstanden, blieb dieser geheimnisvolle Landstrich unbeansprucht, unberührt, unbebaut – und das direkt am Rande der Stadt. Darüber wunderte Prue sich sehr. Und doch verlor kein Erwachsener jemals auch nur ein Wort darüber. Diese Gegend schien in den Köpfen der meisten Leute gar nicht zu existieren.
    Der einzige Ort, an dem die Undurchdringliche Wildnis zur Sprache kam, war die Schule, wo Prue in die siebte Klasse ging. Dort machte eine ziemlich verwegene und zweifelhafte Geschichte die Runde, die gerne von den älteren Schülern erzählt wurde. Sie handelte von einem Mann, der aus Versehen in die U. W. gelaufen war und über viele Jahre hinweg verschwunden blieb. Mit der Zeit vergaß seine Familie ihn und lebte weiter vor sich hin, bis er eines Tages, aus heiterem Himmel, wieder vor der Tür stand. Er schien keine Erinnerung an die vergangenen Jahre zu haben und sagte nur, er habe sich eine Weile im Wald verirrt und schrecklichen Hunger. Prue war diese Geschichte von Anfang an verdächtig vorgekommen: nicht nur, dass sich die Identität dieses Mannes von Erzähler zu Erzähler veränderte – in der einen Version war es ein Vater, dann der Onkel von irgendwem, dann wieder ein missratener Cousin. Auch verschiedene andere Einzelheiten wurden immer wieder aufs Neue leicht abgewandelt. So wusste ein älterer Junge von einer
anderen Schule der gebannt lauschenden Gruppe von Prues Mitschülern zu erzählen, dieser Mann (in dieser Version übrigens der ältere Bruder des Jungen) sei von seinem sonderbaren Aufenthalt in der Undurchdringlichen Wildnis unfassbar gealtert zurückgekehrt, mit einem dichten weißen Bart, der ihm bis auf die zerfledderten Schuhe reichte.
    Trotz ihres fragwürdigen Wahrheitsgehalts wurde Prue durch diese Geschichten klar, dass die meisten ihrer Klassenkameraden ähnliche Gespräche mit ihren Eltern geführt haben mussten wie sie mit ihrem Vater. Und so hielt das Thema Wildnis auch unmerklich Einzug in ihr gemeinsames Pausenspiel: Der quadratische Ballspielplatz wurde nicht länger von einem See aus giftiger Lava begrenzt, sondern von der Undurchdringlichen Wildnis – und wehe dem, der nicht traf und dem roten Gummiball in dieses Dickicht nachrennen musste. Beim Fangen wurde man nicht mehr einfach zum Fänger gemacht, sondern zum Wilden Kojoten der U. W., der knurrend und kläffend seinen fliehenden Mitspielern hinterhertoben musste.
    Das Schreckgespenst dieser Kojoten war es dann auch, das Prue dazu veranlasste, ihre Eltern ein zweites Mal auf die Undurchdringliche Wildnis anzusprechen. Eines Nachts war sie mit pochendem Herzen aufgewacht, geweckt von dem unverkennbaren Geräusch bellender Hunde. Als sie sich im Bett aufsetzte, hörte sie, dass der damals vier Monate alte Mac ebenfalls wach geworden war. Er weinte und wimmerte und wurde leise von ihren Eltern getröstet.
Das Hundegebell war nur ein fernes Echo, aber dennoch schauerlich: eine klanglose Melodie von Gewalt und Chaos. Und je lauter es wurde, desto mehr Hunde in der Nachbarschaft fielen mit ein. Prue bemerkte, dass das ferne Bellen anders klang als das der Hunde in der Nähe; es war schriller, ungeordneter und wütender. Sie schlug die Decke zurück und ging ins Schlafzimmer ihrer Eltern. Der Anblick dort war ihr unheimlich: Mac hatte sich inzwischen etwas beruhigt und wurde auf dem Arm seiner Mutter gewiegt, während die Eltern am Fenster standen und mit blassen und ängstlichen Mienen starr über die Stadt hinweg auf den fernen westlichen Horizont blickten.
    »Was ist das für ein Geräusch?«, fragte Prue und stellte sich neben ihre Eltern. Vor ihnen breiteten sich die Lichter von St. Johns aus, ein Meer funkelnder Sterne, das am Fluss endete und sich in Dunkelheit auflöste.
    Beim Klang ihrer Stimme schraken ihre Eltern zusammen, und ihr Vater antwortete: »Da heulen nur ein paar alte Hunde.«
    »Aber das da weiter weg?«, fragte Prue. »Das klingt nicht nach normalen Hunden.«
    Prue sah, wie ihre Eltern einen raschen Blick wechselten, und ihre Mutter sagte: »Im Wald gibt es ein paar ziemlich wilde Tiere, mein Liebling. Das ist vermutlich ein Rudel Kojoten, das gern über den Müll von irgendjemandem herfallen würde. Mach dir keine Sorgen deswegen.« Sie lächelte.

    Irgendwann hörte das Jaulen und Bellen schließlich auf und die Hunde in der Nachbarschaft beruhigten sich. Prues Eltern brachten sie in ihr Zimmer zurück und deckten sie zu. Danach war die
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