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Wildwood - Das Geheimnis unter dem Wald: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Wildwood - Das Geheimnis unter dem Wald: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Titel: Wildwood - Das Geheimnis unter dem Wald: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Autoren: Colin Meloy , Carson Ellis
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Sommer noch nicht da gewesen waren. Und diese tiefen Falten, die aus seiner Stirn eine Art Schluchtenlandschaft machten, die waren auf jeden Fall auch neu.
    Alles seit dem Verschwinden ihres Bruders.
    Der anfängliche Schock war gewaltig gewesen. Es war, als hätte sich ein Nebel über das Haus gelegt. Jegliche Freude, die früher unter diesem Dach gelebt hatte, verschwand. Und Elsie hasste ihren Bruder deswegen. Zuerst kam die Polizei. Sie hockten auf den Wohnzimmermöbeln wie Elefanten in Polyester und kritzelten knappe Notizen, während ihre Mutter und ihr Vater unter Tränen alles wiederholten, an das sie sich erinnerten, seit er zuletzt gesehen worden war. Dann kamen die Reporter, die Kameraleute, die gaffenden Nachbarn, die am großen Fenster vorbeispazierten, um einen Blick auf die gebrochene, verzweifelte Familie zu erhaschen. Schließlich hatte Lydia, Elsies Mutter, den Neugierigen die Vorhänge vor der Nase zugezogen, und so waren sie monatelang geblieben. Den ganzen Herbst über blieb das Wohnzimmer so dunkel und überschattet wie ihre Herzen. Elsies Vater David zog sich zurück und verbrachte Stunden um Stunden in seinem Arbeitszimmer, überwachte eine Reihe von Internetforen, flehte jeden, der ihm zuhörte, an, ihm bei der Suche nach seinem Sohn zu helfen. Nachts setzte sich Elsie oft im Bett auf und lauschte den gedämpften Gesprächen ihrer Eltern im Nebenzimmer; abwechselnd verfluchte sie dann ihren Bruder und flehte inständig, er möge zurückkehren. »Komm schon, Curtis«, flüsterte sie. »Jetzt hör schon damit auf. Komm nach Hause.«
    Als also Elsies Vater eines Tages aus seinem Arbeitszimmer in die Küche gerannt kam und verkündete, er habe eine Spur, jemand habe in Istanbul in der Türkei einen amerikanischen Jungen gesehen, auf den Curtis ’ Beschreibung passe, brach die gesamte Familie in unbändigen Jubel aus. Erst, als sie sich über die Kosten für Flug und Unterkunft informierten, wurde beschlossen, dass Elsie und Rachel in Portland bleiben müssten, während die Eltern Mehlberg in die Türkei flogen, um ihren Sohn zu suchen. Aber wo würden die Mädchen in der Zeit bleiben? Ohne einen geeigneten Verwandten vor Ort, der sie bei sich beherbergen konnte, blieb nur das örtliche Waisenhaus, wo verzweifelte Eltern ihre Kinder für einen angemessenen Preis so lange wie nötig unterbringen konnten.
    »Die Jamisons haben das mit ihren Kindern auch gemacht, als sie in den Tauchurlaub gefahren sind«, war der einzige Trost, den die beiden Mehlberg-Mädchen zu hören bekamen.
    Und daher kroch ihr Auto nun über die gewundenen Straßen der Industriewüste zum »Joffrey Unthank-Heim für ungeratene Kinder«. Das verhieß ein im trüben Licht vor ihnen leuchtendes Neonschild – mit einem hilfreichen Zusatz darunter, dessen Worte nacheinander aufflackerten, als müssten sie mit weniger Strom auskommen: UND INDUSTRIELLE MASCHINENTEILE.
    Rachel hatte während der ganzen Fahrt geschwiegen. Als jetzt das Gebäude in Sicht kam, blickte sie auf und schnappte nach Luft. Kurz tauchte ihr blasses Gesicht zwischen dem beidseitigen Vorhang ihrer langen, glatten schwarzen Haare auf, und ihre schmalen Schultern erbebten unter dem fadenscheinigen Corrosion-of-Conformity-T-Shirt. »Das fasse ich nicht«, sagte sie leise. Sie zupfte an dem Knäuel dunkler Bänder um ihr Handgelenk.
    »Bitte, Schätzchen«, sagte Lydia von vorn. »Wir haben das doch besprochen. Es bleibt uns einfach nichts anderes übrig.« Sie reckte den Hals, um die beiden Mädchen auf dem Rücksitz anschauen zu können. »Seht es doch so: Ihr tragt euren Teil dazu bei, Curtis zu finden.«
    »Klar«, entgegnete Rachel bedrückt.
    »Auweia«, sagte Elsie und spähte durch die hektischen Scheibenwischer hindurch. »Das sieht gruselig aus.«



Eine Stille folgte, als jeder im Wagen seine schweigende Zustimmung gab. Der Feststellung war tatsächlich nur schwer zu widersprechen. Der Kiesweg, auf dem sie fuhren, hatte die fensterlosen Metallgebäude und Chemietanks hinter sich gelassen und einen freien Platz erreicht, der von einem Maschendraht umzäunt war. In der Mitte stand ein trister Bau, der aussah wie aus einem anderen Zeitalter an diesen Ort versetzt. Der schiefergraue Putz war von Flechten und Ruß überzogen und wurde in regelmäßigen Abständen von hohen Sprossenfenstern unterbrochen. Das Dach bestand aus Schieferschindeln, die einen beeindruckenden Bewuchs von regelrecht schillerndem Moos aufwiesen, und auf dem First ragte ein Uhrenturm
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