Wiener Schweigen
Hilfe.
Nach einer Stunde Weinen hatte sie sich zusammengerollt und war erschöpft auf dem lehmigen, kalten Boden eingeschlafen. Gerade an diesem Tag hätte der Stiefvater sie beinahe erwischt, da er in den staubigen Innenhof gekommen war, nachdem sie gerade aus der Luke gekrochen war.
Ohne Vorwarnung hatte er sich auf sie gestürzt; er hatte sie lange nicht in die Finger bekommen, da das Mädchen sich so oft wie möglich im Keller aufgehalten hatte. Frau Tobler konnte sich noch an seine Schnapsfahne erinnern. Noch bevor sie sich aufgerichtet hatte, hatte sie die erste Kopfnuss mit solcher Wucht getroffen, dass sie gegen die Wand gekracht war. Wenig später war sie auf einem alten umgekippten Krautfass im Hof des Hauses gesessen und hatte einen Apfel gegessen. Der Geschmack des Apfels hatte sich mit dem Blut vermischt, das ihr aus einer Schnittwunde über der Augenbraue, beigebracht vom Ehering des Stiefvaters, in die Augen gelaufen war. Sie hatte sich abwesend die Rippen gerieben, ein Tritt mit dem derben Stiefel hatte sie in die Seite getroffen. Am Kopf brannte die Stelle, auf die der Fuhrenbacher seine Faust hatte niederfahren lassen.
»Ich bin auf dem Fass gsessen, und die Schläge warn mir egal. Ich hab an dem Tag meine Mutter in dem Keller gfunden. Ich hab gewusst, dass mir jetzt nichts mehr passieren kann. Sie würd auf mich schaun.«
Als ihr Stiefvater vor Weihnachten in die Donau gefallen und ertrunken war, hatte sie kalte Genugtuung gefühlt und sich bei ihrer »Mutter« im Keller bedankt. Dann hatte sie im Krautkeller den Schatz hinter den Fässern versteckt. Niemand durfte ihn finden.
»Im Nachlass vom Stiefvater hab i a Kräuterbuch gfunden. Da hab i angfangen, die alten Rezepte auszuprobiern. Mei Stiefvater hat des a scho gmacht und a paar getrocknete Pflanzen zu den Fotos, die im Gschäft hängen, gsteckt. Der hat nur Pflanzen mit einer Rauschwirkung gsammelt.«
Frau Tobler war herangewachsen und immer dicker geworden, mit jedem Kilo hatte sie ihre Gefühle und Empfindungen zurückgedrängt, bis sie eines Tages ganz erloschen waren.
Auch nachdem ihre Mutter gestorben war, hatten die Dorfbewohner sie zu Michaeli weiterhin gemieden. Es hatte sie nie gekümmert. Die, die das grauenhafte Ereignis damals miterlebt hatten, waren inzwischen weggestorben, so war das Geschäft mit den Jahren besser gegangen.
Vor ein paar Jahren ist plötzlich eines Tages die ältere Zehetmair-Schwester in ihrem Geschäft gestanden. Sie musste schon an die neunzig gewesen sein. Ihr Blick war unruhig durch den Raum gewandert.
»Sie hat rumgschrien, sie wollt die Gschicht ihrer Mutter ham, die im Schatz versteckt is. I hab sie gfragt, wie i an dera Gschicht kommen sein soll. ›Weil dein Stiefvater sich, nachdem unser Vater gstorben is, einen Teil vom Schatz gholt hat, der Mörder, der Giftmischer!‹, hat sie immer lauter brüllt.«
Frau Tobler erzählte, dass sie an dem Abend in den Keller hinabgestiegen war und den Schatz einer genaueren Untersuchung unterzogen hatte. Sie hatte die Ummantelungen der Ikonen abmontiert und alle abnehmbaren Verzierungen entfernt. Insgesamt zehn dicht beschriebene Blätter hatte sie gefunden. Als sie diese gelesen hatte, stellte sie fest, dass ihr ein Großteil der Geschichte fehlte, und sie wusste, wo sie den finden konnte.
»Nur wie i an die Blätter von der Zehetmair komm, hab i no net gwusst – und dann is plötzlich dera Poln auftaucht.«
»Andrzej Zieliński?«, fragte Liebhart und sah Frau Tobler fest an.
Ihre Lippen wurden zu einem schmalen Strich, das Gesicht verhärtete sich.
»Er hat mir meine Mutter wegnehmen wolln«, stieß sie hervor.
Der junge Pole war eines Tages nicht weit entfernt von dem Laden gestanden und hatte Frau Tobler durch das Fenster angestarrt. Das war fast eine Woche so gegangen, dann war er zu ihr ins Geschäft gekommen. Sie hatte ihn angeherrscht, dass er verschwinden solle.
Er hatte nur gesagt: »Du Dieb! Ich alles wissen, von Zehetmair. Du Dieb! Du hast altes Bild von Maria und Kind von mir!« Und dann ist er wieder gegangen.
»I hab nimma schlafn können, weil die depperte Zehetmair angfangen hat, die Gschicht herumzuerzähln. I hab mi so gärgert«, bellte Frau Tobler. »Was bringt denn das heute noch! Die Leut von damals sind alle tot, mein Stiefvater ist tot!«
»Also sind Sie am 27. Mai zum Haus der alten Zehetmair gegangen.«
»I wollt sie eigentlich nur beruhigen und ihr klarmachen, dass es nur Schwierigkeiten macht, wenn sie
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