Wiener Schweigen
Fuhrenbacher hatte einen großen Schlüssel, der an seinem Hosenbund hing und den er nie aus den Augen ließ. Bevor er sich schlafen legte, hatte er ihn unter sein Kopfpolster deponiert. Wenn er untertags in einen Heurigen ging, hatte er die Regale im Geschäft vollgefüllt und den Keller abgeschlossen.
»Wie war Ihr Verhältnis zu Ihrem Stiefvater?«, fragte Liebhart und schenkte ihnen beiden Mineralwasser nach.
Frau Toblers Gesicht verdüsterte sich. »Er hat immer nach mir treten.«
Am schlimmsten war es samstags, wenn er saufen ging. Um Mitternacht ist er zurück nach Hause getorkelt und hat zuerst seine Frau und dann das Kind verdroschen.
»Als Abschluss der Arbeitswoche«, fügte Frau Tobler bitter hinzu.
So war Berta Tobler, für ihre Mutter unsichtbar und für ihren Stiefvater ein Ärgernis, aufgewachsen. Einsam war sie, da die Dorfjugend ebenso wie der Rest des Dorfes keine Gelegenheit ausließ, um den Bastard seine Herkunft spüren zu lassen.
»Wie haben Sie von dem Schatz erfahren?«, fragte Liebhart behutsam.
»I wollt mich vorm Stiefvater verstecken und hab a Luke gfunden, durch die i in den Keller eingstiegen bin. Im Dunklen hab i auf ein spitzen Gegenstand griffen, der am Boden glegen ist, und hab mich in die Hand gritzt. I wollt Licht machen, hab aber Angst ghabt, dass er mich dann findt. I hab die Hand mit dem blutigen Schnitt auf mein Mund presst und den Atem anghalten. An dem Tag hat da Stiefvater nur mei Mutter dawischt. Die hat halt dann die doppelte Anzahl an Watschen kassiert.«
Rosa schnürte sich die Brust zusammen, wenn sie an das Leben des kleinen Mädchens dachte.
Am nächsten Tag war Berta wieder in den Keller geklettert, diesmal mit einer Schachtel Zündhölzer, und zu der Stelle gekrochen, an der sie sich am Abend zuvor die Hand verletzt hatte. Im aufflackernden Licht eines Zündholzes hatte sie einen Gegenstand hinter den Fässern hervorblitzen sehen. Sie hatte das Ding in die Hand genommen und darauf gehaucht. Als sie mit dem Stoff ihrer Schürze darüber gerieben hatte und der Glanz heller geworden war, war ihr warm geworden.
»Wie meinen Sie das?« Liebhart legte den Kopf schief.
»Na, das Ding hat so gstrahlt, dass mir ganz anders gworden ist.« Frau Tobler rang nach Worten. »Irgendwie hat’s mich beschützt. Es war von da an mein Geheimnis.«
»Wissen Sie, was das für ein Gegenstand war?«
Sie zuckte die Schultern. »Ich hab als kleines Mädchen nicht gwusst, was ich da gfunden hab. Die ganzen Sachn warn irgendwie heilig, verstehn S’? Mit mir sind s’ ja nie in die Kirche gegangen, sie haben sich wegen mir gschämt.«
Dann begann Frau Tobler aufzuzählen, was sie alles in dem Keller entdeckt hatte. Sie konnte die Gegenstände zwar nicht benennen, beschrieb sie aber mit einer Detailgenauigkeit, die Rosa erstaunte. Sie musste unglaublich viel Zeit mit der Betrachtung des Schatzes verbracht haben.
Die bunten Schmucksteine eines schweren Tellers waren für sie wie Zuckerln, die sie manchmal in den Händen von anderen Kindern gesehen, aber selbst nie bekommen hatte. Am meisten jedoch hatte es ihr eine Marienikone angetan.
Zuerst hatte sie mit dem Bild nicht viel anfangen können. Sie hatte den kleinen Jesus nicht als Kind erkannt; seine Züge waren nicht kindlich, er war einfach nur kleiner als seine Mutter dargestellt. Frau Tobler erinnerte sich noch sehr gut an den Nachmittag, als sie das erste Mal begriffen hatte, was da abgebildet war. Es war Mitte November gewesen und eiskalt im Keller, sie war neun Jahre alt gewesen und hatte am ganzen Körper gescheppert, da sie nur ein dünnes Winterkleid – ihr einziges – angehabt hatte. Sie hatte Stunden damit verbracht, auf die Stelle, wo die Wange des Jesuskindes die Wange seiner Mutter berührt, zu starren. Wie Maria ihren Sohn zu sich zog und ihn festhielt, als ob sie wüsste, was ihm eines Tages bevorstand.
»Plötzlich ist in mir etwas gerissen«, erklärte sie Liebhart.
Eine heiße Welle Schmerz hat ihren Brustkorb gedehnt, und Tränen sind ihr in die Augen gestiegen. Sie hat die Knie angezogen und ihr kleines Gesicht in den Ärmeln des Kleides vergraben, dann sind ihr die Tränen über die Wangen gelaufen.
Rosa biss sich auf die Lippen und dachte: Dem Mädchen ist bewusst geworden, dass ihre Mutter sie nie so berührt hatte und sie nie so berühren würde. Kein Mensch hatte sie je umarmt, niemand würde sich Gedanken um sie machen, niemand hatte je Sorge um sie. Für sie gab es keinen Trost und keine
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