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Wie wir gut zusammen leben

Wie wir gut zusammen leben

Titel: Wie wir gut zusammen leben
Autoren: Juergen Manemann
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politisch, so wäre Politik das Totale. Damit Politik nicht das Totale wird, darf sie nicht an erster Stelle stehen. Das gilt sowohl im Blick auf die Machtpolitik als auch im Blick auf die Bürgerpolitik.
    Wie erwähnt, kommen wir nicht als politische Lebewesen auf die Welt. Politik entsteht zwischen den Menschen, nicht im Menschen. Damit überhaupt Politik als ein Zwischen-den-Menschen entstehen kann, damit Menschen nicht nur vom Wert der Gerechtigkeit wissen, sondern Gerechtigkeit erfahren und spüren, bedarf es der Grundfähigkeit, sich vom Leid des Anderen verwunden zu lassen, mitfühlen und mitleiden zu können. Diese Fähigkeit wird in einem vorpolitischen Raum erworben.
    Das Vorpolitische ist die Beziehung des Menschen zum anderen Menschen. Und diese Beziehung ist von Beginn an eine Beziehung, in der Gleichgültigkeit, wie der Philosoph Emmanuel Lévinas (1905–1995) aufweist, keine Möglichkeit ist.
    Beziehung gründet in einer radikalen, nicht delegierbaren Verantwortung des Ich für den Anderen. Man denke an Liebesbeziehungen, etwa an die Liebe der Eltern zu ihrem Kind. Durch Liebe erfahren Menschen Anerkennung und können Selbstvertrauen ausbilden, welches die Voraussetzung eines Selbstwertgefühls ist. Liebesbeziehungen sind die Basis dafür, dass wir Abscheu vor Unmenschlichkeit empfinden, dass wir Glück wahrnehmen, das nicht aus dem Unglück anderer hervorgeht, kurz: dass wir in der Lage sind, mitzufühlen und zu verstehen.
    »Es gibt nichts Schwereres als das Mitgefühl. Selbst der eigene Schmerz ist nicht so schwer wie der Schmerz, den man mit einem anderen, für einen anderen, an Stelle eines anderen fühlt, der sich durch die Vorstellungskraft vervielfältigt, sich in hundertfachem Echo verlängert.« (Milan Kundera)
    Liebe ist die Voraussetzung dafür, gegen Leid anzukämpfen und für Gerechtigkeit einzustehen. Liebe und Gerechtigkeit gehören zusammen, auch wenn Ersterer die Priorität zukommt. Gerechtigkeit ist in ihrem Kern politische Liebe. Sie gründet in dem Bedürfnis, »Leiden beredt werden zu lassen« (Theodor W. Adorno). Ohne dieses Bedürfnis gibt es keine echte Politik.
    Politik, die in diesem Bedürfnis wurzelt, muss sich heute als Anerkennungspolitik verstehen. Als solche darf sie die Frage nach Gerechtigkeit nicht auf Verteilungsfragen reduzieren. Gerechtigkeit muss deshalb heute als individuelles Gerechtwerden verstanden werden. »Individuelles Gerechtwerden heißt hier, mit dem anderen gegen das zu reagieren, wogegen er leidend und klagend reagiert« (Christoph Menke). Durch den darin erhobenen Imperativ der Anerkennung werden die Theorie und Praxis von der Gerechtigkeit bzw. Gleichheit in der liberalen Gesellschaft immer wieder neu im Blick auf den konkreten Menschen in seiner unendlichen Würde befragt. Und so ergeht die Forderung, die Eigenperspektive des Individuums zu berücksichtigen.
    Eine liberale Politik versteht Gerechtigkeit im Sinne der Gleichheit. Gleichheit heißt, jeden gleich zu behandeln, jedem die gleichen Chancen zu eröffnen. Wenn jedoch der Andere immer durch die Brille der Gleichheit betrachtet wird, so erscheint er immer als der verallgemeinerte Andere. Dadurch wird jedoch der Andere seiner Einzigartigkeit und damit seiner Identität beraubt. Auf dieses Problem der Gerechtigkeit hat der Philosoph Theodor W. Adorno hingewiesen, als er davon sprach, dass das Medium der Gerechtigkeit immer auch die Ungerechtigkeit ist. Gleichheit heißt nämlich, jeden gleich zu behandeln. Damit der konkrete Mensch in den Fokus der Politik kommt, muss das Verständnis von Gerechtigkeit als Gleichheit immer wieder aufgebrochen werdendurch den Versuch, dem konkreten Anderen gerecht zu werden. Individuelles Gerechtwerden ist der Motor der Gerechtigkeit. Durch das Hörbarwerden der Klagen des Anderen, mit denen dieser auf eine eingewöhnte Gleichheitspraxis reagiert, wird Gerechtigkeit immer gerechter – so der Philosoph Christoph Menke.
    Politik basiert somit auf einer zweifachen Verwundbarkeit: Jedem Menschen kann Leid zugefügt werden, und ein jeder wird vom Leid des Anderen betroffen. Die Erfahrung von Leid verbindet und trennt uns. Sie trennt, da jede Leiderfahrung einmalig ist. Leiderfahrung basiert auf unserer körperlichen Verwundbarkeit: Wir können verletzt werden, nicht nur durch die Gewalt von anderen, sondern auch durch deren Leid, und wir selbst können verletzen. Leid bedeutet mehr als Schmerz. Es trägt den Imperativ seiner Abschaffung in sich. Der hier
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