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Wie wir gut zusammen leben

Wie wir gut zusammen leben

Titel: Wie wir gut zusammen leben
Autoren: Juergen Manemann
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bereitstellen müssen, wenn sie ihr Gebäude in die Höhe aufstocken wollen. Benannt nach dem Vorstandsvorsitzenden der United Steel Corporation ist der Park zwar ein Park für die Bürger, aber er ist kein öffentlicher Park, für den städtische Verordnungen gelten. Ebenso wenig ist er ein Park, der bloßen Eigentümerrechten unterliegt. Während nun Kimmelman die Besetzung dieses Ortes beobachtete, musste er an den Philosophen denken, dem wir das Wort »Politik« verdanken: Aristoteles (384–322 v. Chr.). Dieser schrieb sein Buch »Politik« 350 v. Chr. Kimmelman fühlte sich an die griechischen Volksversammlungen erinnert, als er sah,wie die Demonstranten im Zuccotti-Park eine ihrer allgemeinen Versammlungen abhielten. Schon Aristoteles hatte darauf hingewiesen, dass die Größe einer idealen Polis durch die Möglichkeit begrenzt wird, den Schrei des Herolds zu vernehmen. Für Aristoteles war die menschliche Stimme direkt mit der zivilen Ordnung verbunden. Demgemäß erfordert eine aktive Bürgerschaft in einer echten Stadt eine Verständigung von Angesicht zu Angesicht. Sich an die Gedanken von Aristoteles erinnernd, avanciert der Zuccotti-Park für Kimmelman zu einer solchen Polis im Kleinen. Es ist vor allem die Praxis sogenannter mic checks , die diese Verbindung bei ihm aufblitzen lässt.
    Nun, was hat man sich unter dieser Praxis vorzustellen? Kimmelman berichtet davon, dass die Polizei den Gebrauch von Megafon untersagt hatte. Alternativ erfanden die Protestler die mic checks . Mic checks steht gewöhnlich als Abkürzung für Mikrofonproben. Während der Besetzung des Parks bezeichnen mic checks die Verbreitung von Verlautbarungen. Darüber hinaus wurden mic checks zum Instrument des Konsenses. Verlautbarungen wurden dadurch unter das Volk gebracht, dass man wiederholte, was ein Redner vortrug, und zwar Phrase für Phrase. Es war, so hebt Kimmelman hervor, als sprächen alle mit einer Stimme. Die Wiederholungen waren akribisch genau und gingen sehr langsam vonstatten. Nun stellte sich während dieser lautverstärkenden Praxis eine besondere Erfahrung ein, denn die mic checks erforderten, dass man anderen sehr genau zuhört, weil man das Gesagte ja exakt wiederholen musste. In den Gesprächenmit jungen Demonstranten wurde Kimmelman bewusst, welche Bedeutung diese Praxis für sie jeweils persönlich hatte. Viele junge Menschen machten zum ersten Mal die Erfahrung, was es heißt, zuzuhören. Dadurch wurde ihnen bewusst, so fährt Kimmelman fort, dass sie eine Fähigkeit besitzen, die sie sich selbst schon gar nicht mehr zugetraut hatten, da sie ihnen immer wieder abgesprochen wurde: sich auf etwas konzentrieren zu können. Und noch etwas erfuhren die Demonstranten: was Verstehen heißt.
    Diese Erfahrungen sind für die Fortdauer einer Demokratie von großer Bedeutung. Die modernen politischen Institutionen sind nämlich keine nach bloßen Regelwerken ablaufenden Apparate. Sie leben von dem kommunikativen In- und Output, den die Bürgerinnen und Bürger in sie stecken. Ohne diese Energien geht den demokratischen Institutionen der Atem aus. Motor der Kommunikation ist die immer wieder neue Infragestellung von eingefahrenen Prozeduren, Sicht- und Handlungsweisen. Darin besteht die Herausforderung der Demokratie.
    Demokratische Gesellschaften gründen in Praktiken gegenseitiger Anerkennung. Die Protestler in der Occupy-Bewegung erfahren sich nicht als eine anonyme Masse − so wurden sie häufig in den Medien charakterisiert −, sie entdecken sich als eine eigene Menge, als Menschen mit ähnlichen Interessen. Praktiken gegenseitiger Anerkennung beruhen auf bestimmten Grundfähigkeiten. Die Philosophin Martha C. Nussmann nennt folgende:
    » die Fähigkeit, mit anderen und für andere zu leben, andere Menschen zu verstehen und Anteil an ihrem Leben zu nehmen, verschiedene soziale Kontakte zu pflegen; […] sich die Situation eines anderen Menschen vorzustellen und Mitleid zu empfinden; […] Gerechtigkeit zu üben und Freundschaften zu pflegen«.
    Fehlen diese Grundfähigkeiten, ist Politik gefährdet.

II.

Kultur ist der neue Name für Politik.

B urn-out«, »Depression« – Begriffe, die mittlerweile fester Bestandteil unserer Alltagssprache sind. Jeder von uns kennt Menschen, die darunter leiden.
    »Burn-out«, »Depression« – mit diesen Begriffen werden nicht bloß individuelle Leiden diagnostiziert. Es handelt sich um Begriffe, die gesellschaftsdiagnostische Relevanz besitzen.
    Angesichts massenhafter
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