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Wie wir gut zusammen leben

Wie wir gut zusammen leben

Titel: Wie wir gut zusammen leben
Autoren: Juergen Manemann
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ist.
    Für den Flüchtling gibt es allerdings bedrängendere Situationen als die Gefahr des Ausschlusses in einer Gesellschaft, dann nämlich, wenn er sich außerhalb jeglicher Ordnung befindet. In dieser Situation besitzt er faktisch »kein Recht auf Rechte« (Hannah Arendt) mehr. Das Exil wird ihm zur Hölle. Das Exil als Hölle ist eine Existenz, die nur noch aus Flucht und Vertreibung besteht. Exil als Hölle bezeichnet eine Existenz, in der von dieser Welt nichts, aber auch gar nichts mehr erhofft werden kann. Ist Flucht der permanente Ausnahmezustand, der Zustand der Rechtlosigkeit, so steht am Ende die Hoffnungslosigkeit. Ein bekannter Witz bringt diese Situation auf den Punkt:
    »1956, nach der Niederschlagung des Volksaufstandes kommt ein ungarischer Flüchtling nach Wien und sucht ein dauerndes Exil. Dass er in Österreich, das schon viele Flüchtlinge aufgenommen hat, nicht bleiben könne, ist ihm von den Behörden sofort nach dem Grenzübertritt gesagt worden. Nun nennen sie ihm Jugoslawien über die Bundesrepublik und die Schweiz bis zu Kanada und Australien alle möglichen Zufluchtsländer, die sie dem Flüchtling auf einem bereitstehenden Globus auch zeigen. Dieser dreht selbst an der Erdkugel und fragt nach einer kurzen Bedenkpause: ›Haben Sie keinen anderen Globus?‹« (frei erzählt von Jacob Taubes)
    Die Hoffnungslosigkeit der Existenz dieses Flüchtlings besteht in der Alternativlosigkeit, gibt es doch keinen anderen Globus. Aber auch in unserer Gesellschaft machen Menschen die Erfahrung, in einem Exil als Hölle zu wohnen. Diese Menschen existieren für die Gesellschaft nicht; sie sind die Unsichtbaren: »Wir wissen alle, dass sie da sind. […] Dass sie für uns arbeiten. Und keine Papiere haben. Illegal sind.« – So schreibt Björn Bicker in seinem Buch über die Illegalen.
    Angesichts der Existenz einer Vielzahl von Rechtlosen in der Weltgesellschaft drängt sich heute die Frage nach dem Repräsentationsbedarf in modernen rechtsstaatlichen parlamentarischen Demokratien neu und anders auf, und zwar nicht nur im Sinne der repräsentativen Demokratie, die Macht, Volkes Macht, repräsentiert, sondern auch im Blick auf die »Repräsentation politischer Ohnmacht« (Johann Baptist Metz). Hier kommt zum Beispiel gerade den Kirchen eine zentrale Rolle zu. Sie müssten Orte sein, an denen diese politische Ohnmacht repräsentiert wird, ist doch das Christentum eine Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaft, die in ihrem Kern das Leben eines Anteillosen erinnert: »Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann« (Mt 8,20). Solange es das Christentum in der Gesellschaft geben wird, so lange wird diese Erinnerung immer wieder neu eine Bresche in die Gesellschaft schlagen und eingefahrene Gewohnheiten unterbrechen. Das gilt auch für das Judentum und den Islam. Die Gesellschaft braucht solche Erinnerungen. Durch sie erhält die Gesellschaft eine Öffnung, die sie selbst nicht erzeugt, aber auf die sie angewiesen ist, um eine offene, vom Leid des Anderen verwundbare, mit einem anderen Wort: politische Gesellschaft zu bleiben.

    Das Politische zu kennen, heißt wissen, was gerecht ist. Aber wissen wir noch was gerecht ist, wenn wir eine »Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen« (Frontex) ins Leben gerufen haben,um Menschen daran zu hindern, zu uns zu kommen und ihre Menschenwürde einzuklagen? Wissen wir noch, was gerecht ist, wenn Menschen ohne Arbeit »Hartz-IV-Häppchen« erhalten und die Banken Milliarden? Diese Anfragen zeigen, dass mit uns und mit der Politik etwas zutiefst nicht mehr stimmt, dass uns das Politische abhandenzukommen droht.

V III.

Leidempfindlichkeit ist die Bedingung aller Politik.

D amit Politik nicht total wird, damit Machtpolitik nicht in Herrschaft umkippt, darf Politik nicht alles sein. Dennoch hört man immer wieder von kritischen Zeitgenossen den Ausspruch: »Alles ist politisch.« Oder aus der Frauenbewegung: »Das Private ist politisch.« Wenn diese Sätze eine Diagnose sein sollen, mit der festgestellt wird, dass es überall immer nur in erster Linie um Macht geht, dass alle Beziehungen nichts anderes als Machtbeziehungen sind, dann sind diese Sätze falsch. Sollten diese Sätze als Imperative gelesen werden – »Alles soll politisch sein« und »Das Private soll politisch sein« –, dann steckt in diesen Forderungen eine große Gefahr: Wäre alles
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