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Wie wir gut zusammen leben

Wie wir gut zusammen leben

Titel: Wie wir gut zusammen leben
Autoren: Juergen Manemann
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fundamentalen Sinn gestellt wird, wenn es um mehr geht als Fairness. Das geschieht, dem Philosophen Jacques Rancière zufolge, wenn plötzlich diejenigen, die keinen Anteil an der Gesellschaft haben, die sichtbar und doch unsichtbar sind, die zwar eine Stimme haben, aber über keine Sprache verfügen, sich unüberhörbar zu Wort melden, sich unübersehbar zeigen. Es ist diese Unterbrechung, durch die eine Bresche in die Gesellschaft hineingeschlagen wird und die dazu zwingt, neu nach dem, was Gerechtigkeit ist, zu fragen. Alle Politik, Machtpolitik und Bürgerpolitk, hat ihren Ursprung in dieser Unterbrechung, darin, dass der Schrei nach Gerechtigkeit laut wird. Die Gerechtigkeitsfrage ist somit sowohl das Fundament als auch der Motor von Politik überhaupt. Sie ist das Politische, denn dieses steht für den »Anteil der Anteillosen« (J. Rancière).
    Wenn wir von den Anteillosen sprechen, dann sprechen wir von den Menschen, die keinen Anteil an Politik und Gesellschaft haben, die sich außerhalb des Zusammenspiels von Macht und Gegenmacht befinden, die ohne Macht, ohnmächtig sind. Die Anteillosen tauchen in den Konzepten der liquid democracy nicht auf. Daran zeigt sich der blinde Fleck in der Wahrnehmung der Piraten. Aber auch eine SPD, wie Sigmar Gabriel sie sich wünscht, die sich als eine Politik für die ganz breite Mehrheit in unserer Gesellschaft versteht, lässt diesen Blick vermissen. Seine Vision geht von der Einsicht aus, dass die Summe einer Politik für Minderheiten am Ende keine Mehrheit erreiche, dass erst eine Politik der Mehrheit die Verteilungsspielräume für die Hilfen für Minderheiten schaffe. Darin spricht sich ein dezidiert liberales Axiom aus: Ungleiche Verhältnisse sind dann vertretbar, wenn durch sie die Schlechtergestellten besser gestellt werden als zuvor. Mündet diese Politik aber nicht über kurz oder lang in einen Utilitarismus? Wenn Gabriel darin heutedas Linkssein der SPD-Politik ausmacht, so hat er vergessen, dass linke Politik von Beginn an immer schon eine Politik der Mehrheit war, dass zu dieser Mehrheit jedoch diejenigen gehörten, die heute zu den Minderheiten zählen: die Elenden. Sie waren in früheren Jahrhunderten die Mehrheit als Masse. Heute hat man den Blick geändert: Mehrheit heißt nun Mitte. Daran ändern auch semantische Neujustierungen nichts. Müsste nicht deutlicher gemacht werden, dass eine Politik der Minderheit immer eine der Mehrheit ist, liegt es doch im humanen Interesse der Mehrheit, sich um Minderheiten zu kümmern? Und ist der Stachel im Fleisch nicht immer der Blick von der Minderheit auf die Mehrheit? Wie kann die politische Debatte anders auf die Grenzen der Gerechtigkeit reflektieren? Vergisst diese Vision linker Politik nicht am Ende das Bedürfnis, dem sie entsprungen ist, nämlich »Leiden beredt werden zu lassen« (Theodor W. Adorno, 1903–1963)?
    Der Anteil- bzw. der Rechtlose schlechthin ist heutzutage der Exilierte, der Flüchtling. Aber nicht jeder Flüchtling ist rechtlos. Sobald der Flüchtling etwa zum Fremden geworden ist, hält er sich ja bereits in der Gesellschaft auf und besitzt eine Sichtbarkeit. Als Fremder ist er Teil und Nichtteil der Gesellschaft zugleich, er ist ein insider-outsider . Der Flüchtling als der Fremde befindet sich in der gesellschaftlichen Ordnung; er ist aber nicht Bestandteil dieser Ordnung. Was den Fremden auszeichnet, ist ein besonderes Wissen. Der Fremde weiß, dass die Ordnungen des Zusammenlebens in gewisser Weise einen künstlichen Charakter besitzen, mithin auch ganz anders aussehen könnten. Diese Erkenntnis ist für Einheimische zunächst schmerzhaft. Flüchtlinge als Fremde sind »Vorläufer neuer Ordnungen« (Vilém Flusser, 1920–1991). Gerade deshalb werden sie von Hiesigen ausgeschlossen. Die Exklusion ist der Versuch, den Fremden in das bestehende Ordnungsgefüge einzupassen. Dazu macht man den Fremden zum Ausländer. Das bedeutet: Man kupiert das Fremdsein um das Teilsein. Durch die Zuschreibung »Ausländer« ist die Welt aus der Sicht der Einheimischen wieder in Ordnung. Inländer und Ausländer stehen sich quasi als Lebewesen gegenüber, die unterschiedliche Elemente bewohnen. Der Fremde wird also zum Ausländer gemacht, um die bestehende Ordnung zu retten. Die klaren Unterscheidungen sollen die vermeintliche Identität sichern: Der Inländer weiß durch den Ausländer, wer er ist. Dieses Scheinwissen, das Identität genannt wird, kommt abhanden, wenn der Ausländer kein Ausländer mehr
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