Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wie wir gut zusammen leben

Wie wir gut zusammen leben

Titel: Wie wir gut zusammen leben
Autoren: Juergen Manemann
Vom Netzwerk:
mit dem Staat, sie wurzelt nicht in Regierungspolitik. Ihre Basis ist die Praxis der Menschen vorOrt. Bürgerpolitik denkt nicht von oben, von den Gewalten her. Sie begnügt sich nicht damit, Freiheit zu schützen. Sie will Freiheit aufrichten, und zwar von unten her. Bürgerpolitik basiert auf einem Freiheitsverständnis, das in Freiheit mehr sieht als negative Freiheit, als die Freiheit von Zwang. Freiheit bedeutet für sie mehr als das Freiräumen von Hindernissen, als Freisein von etwas. Charakteristisch für das Freiheitsverständnis der Bürgerpolitik ist das Freisein zu etwas. Deshalb ist Bürgerpolitik verbunden mit Visionen vom guten Zusammenleben. Aus ihnen erwachsen die Motivationen vieler Bürger. Visionen sind Erzählungen, vielfach gehen sie aus den großen Erzählungen der Menschheit hervor. Eine der großen Erzählungen, die im politischen Feld immer wieder erinnert wird und zu politischem Handeln motiviert, ist die Erzählung des Exodus. Die Entstehung der USA ist ohne diese Erzählung nicht verständlich. Worum geht es? Die Vorfahren der Israeliten, vormals Halbnomaden, mussten Fronarbeit in Ägypten leisten. Vermutlich flohen sie im 13. Jahrhundert v. Chr. aus Ägypten, dem Land, das sie ausbeutete und knechtete. Der Philosoph Michael Walzer stellt die Bedeutung heraus, die diese Geschichte heute noch für uns besitzt:
    »Wir – oder viele von uns – glauben immer noch an das, was der Exodus uns über Sinn und Möglichkeit von Politik lehrte […]: erstens, daß wo immer man lebt, wahrscheinlich Ägypten ist; zweitens, daß es einen besseren Ort, eine reizvollere Welt, ein Gelobtes Land g ibt; und drittens, daß der Weg zu dem Land durch die Wüste führt.«

V II.

Gerechtigkeit ist das Fundament der Politik.

M achtpolitik und Bürgerpolitik gehören zusammen. Sie konstituieren das Feld der Politik, und zwar als ein Feld der Macht: Die Ordnungsmacht wird durch die Gegenmacht in Bewegung versetzt. Politiker und Bürger, beide sind im Besitz von Macht. Die Machtpolitik steht in der Gefahr, in Herrschaft umzuschlagen. Die Gefahr der Bürgerpolitik besteht darin, selbstbezüglich zu werden. Auch der Bürger kann mit seinem Engagement das Gemeinwohl gefährden. Deutlich wird das im Blick auf die Energiewende. In verschiedenen Städten bilden sich Bürgerinitiativen, die sich gegen mögliche Stromtrassen, Windkraftanlagen oder auch die Lagerung von Atommüll aussprechen. Hier ist an die Adresse der Bürgerinnen und Bürger die Forderung zu richten, dass sie ihre Wünsche, die selbstverständlich dem privaten Wohlbefinden dienen dürfen, immer auch durch die Brille des Prinzips des Gemeinwohls sehen müssen. Alles andere wäre ein ethisch nicht vertretbarer Narzissmus. Studien zeigen, dass die Schaffung ökonomischer Anreize zur Problemlösung, etwa bei der Suche nach Atommülllagern, nicht sinnvoll ist. Es kann aber sehr sinnvoll sein, den betroffenen Städten und Gemeinden öffentliche Güter zur »Kompensation« anzubieten, beispielsweise neue Büchereien, Spielplätze oder eine bessere Ausstattung der Schulen. Durch diese Güter erfahren die Bürgerinnenund Bürger vor Ort nicht nur eine gesamtgesellschaftliche Anerkennung dafür, die Lasten aller zu tragen, sondern sie erhalten gleichzeitig auch Mittel zur Stärkung ihres Zusammenlebens.
    Dass der Bürger sehr schnell zum Narzissten regredieren kann, hängt mit seinem Selbstverständnis zusammen. Bürger begreifen sich zunächst einmal als Advokaten der individuellen Freiheit. Sie verfolgen ihre Interessen und haben als Bürger ihre individuelle Freiheit im Blick. Hier setzt ja bekanntlich die FDP mit ihrer Politik an. Aber der Bürger besitzt durchaus ein Bewusstsein dafür, dass für individuelle Freiheit zu kämpfen nicht nur heißt, für die eigene Freiheit einzustehen, sondern auch die individuelle Freiheit der anderen zu schützen. Der Bürger weiß, dass eine Politik der individuellen Freiheit nicht nur für die Freiheit der bürgerlichen Majorität einsteht, sondern immer auch die Freiheit der Minorität schützen muss. Zu dieser Einsicht, sich auch für die Anliegen der Minorität stark machen zu müssen, drängt ihn nicht zuletzt der Gedanke, nach einer Wahl plötzlich selbst zu einer Minderheit gehören zu können. Was aber ist mit den Minderheiten, die keine Stimme haben?
    Die Kernfrage der Politik lautet, wie wir gut zusammen leben können. Diese Frage bricht erst dann auf, wenn die Frage nach der Gerechtigkeit in ihrem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher