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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben?
Autoren: Sarah Bakewell
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hinübergleitet.
    Er war in einem Zustand der inneren Ermattung und äußeren Unruhe, als die Bediensteten ihn ins Haus trugen. Seine Angehörigen bemerkten den Aufruhr und liefen zu ihm hinaus – «mit dem bei solchen Widerfahrnissen üblichen Geschrei», wie er es später ausdrückte. Sie wollten wissen, was passiert war. Montaigne konnte Antwort geben, aber nur unzusammenhängend. Er sah seine Frau auf dem holprigen Weg näher kommen und erwog, seinen Männern zu befehlen, ihr ein Pferd zu bringen. Man könnte meinen, diese Überlegung sei «von einer wachen Seele ausgegangen», schrieb er, «und doch war ich ganz woanders». Es handelte sich «um ungreifbare, nebelartig hin und her wabernde Gedanken, die von den äußeren Wahrnehmungen der Augen und Ohren in Bewegung gesetzt wurden; sie tauchten nicht ausmeinem Innern auf [ ils ne venayent pas de chez moy ]». Alle diese Bewegungen und Worte brachte der Körper ganz allein hervor. «Was die Seele dazu beitrug, tat sie träumend, ganz leise angerührt vom weichen Druck der Sinne, wie angehaucht von ihnen und nur leicht benetzt.» Montaigne und das Leben, so schien es, waren im Begriff, voneinander zu scheiden, ohne Bedauern oder förmlichen Abschied – wie zwei betrunkene Gäste, die beim Verlassen des Festes viel zu benebelt sind, um sich voneinander zu verabschieden.
    Seine Verwirrung hielt an, nachdem er im Haus war. Er fühlte sich, als schwebte er auf einem Zauberteppich, er spürte keine Schmerzen und keine Angst beim Anblick all der besorgten Menschen um ihn herum, nur Mattigkeit und Schwäche. Seine Diener brachten ihn zu Bett, und ein unbeschreiblich sanftes und friedliches Gefühl erfüllte ihn, ohne dass er im Geringsten über seinen Körper nachdachte. «Ich empfand ein unsägliches Wohlgefühl in dieser Ruhe, denn ich war von den armen Leuten übel herumgezerrt worden, die sich die Mühe aufgebürdet hatten, mich über einen langen und äußerst schlechten Weg auf ihren Armen zu tragen.» Er lehnte jede Arznei ab, überzeugt, dass er sterben werde. Es wäre «fürwahr ein seliger Tod gewesen».
    Diese Erfahrung des Sterbens war ganz anders, als Montaigne es sich bis dahin vorgestellt hatte. Er hatte eine Reise an die Grenze des Todes unternommen, war ihm ganz nah gekommen, hatte ihn mit seinen Lippen berührt und gekostet wie ein unbekanntes Aroma. Dies war ein essai über den Tod: eine Übung oder exercitation – dies ist das Wort, das Montaigne verwendete, als er über diese Erfahrung schrieb. Später spielte er seine Empfindungen immer und immer wieder durch und rekonstruierte sie so genau wie möglich, um daraus zu lernen. Das Schicksal hatte ihm die Chance gegeben, den philosophischen Konsens über den Tod am eigenen Leib zu erfahren. Aber er war nicht sicher, ob er die richtige Antwort gefunden hatte. Die Stoiker hätten seine Schlussfolgerungen sicher missbilligt.
    Teile der Lektion waren aber ganz im Einklang mit den Philosophen: Diese exercitation lehrte ihn, die eigene Nichtexistenz nicht zu fürchten. Der Tod konnte ein freundliches Gesicht haben, wie es die Philosophen versprochen hatten. Montaigne hatte ihm ins Auge geblickt, aber nicht mit scharfem Verstand, wie es einem Vernunftmenschenangemessen gewesen wäre. Statt mit offenen Augen auf den Tod zuzumarschieren, tapfer wie ein Soldat, hatte er sich mit kaum einem klaren Gedanken in diesen Zustand fallen lassen, von ihm verführt. Beim Sterben, so erkannte er jetzt, begegnet man keineswegs dem Tod, denn man ist schon vorher nicht mehr da. Man stirbt, als würde man in den Schlaf hinübergleiten. Die Stimmen derjenigen, die einen festzuhalten versuchen, streifen einen nur «an der Oberfläche der Seele». Das eigene Leben hängt an einem Faden, «nur noch am Rande der Lippen», wie Montaigne sich ausdrückte. Das Sterben war nichts, auf das man sich vorbereiten konnte. Die Vorstellung, man könne «sterben lernen», war ein Hirngespinst.
    Von nun an interessierte sich Montaigne weniger für den exemplarischen Tod der großen Philosophen als vielmehr für den Tod der einfachen Leute, besonders jener, die in einem Dämmerzustand starben, verloren in «Ermüdung und Entkräftung». In seinen reifsten Essais schrieb er voll Bewunderung über die Römer Petronius und Tigellinus, die inmitten von Scherzen, Musik und Alltagsgesprächen den Tod gleichsam einlullten, umgeben von einer allgemeinen Fröhlichkeit. Statt ein Fest in eine Todesszene zu verwandeln, wie es Montaigne in seiner
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