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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben?
Autoren: Sarah Bakewell
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jugendlichen Phantasie getan hatte, machten sie aus ihrem Sterben ein Fest. Besonders gefiel ihm die Geschichte von Marcellinus, der einen qualvollen Tod durch Krankheit vermeiden wollte und zu einer sanften Sterbehilfe Zuflucht nahm: Nachdem er mehrere Tage gefastet hatte, nahm er ein sehr heißes Bad. Bereits geschwächt von der Krankheit, raubte ihm das Bad die letzte Lebenskraft. Er sank langsam in Bewusstlosigkeit und hauchte sein Leben aus, während er seinen Freunden zumurmelte, was für ein Wohlgefühl ihn dabei durchströme.
    Man kann sich vorstellen, dass ein Tod wie der des Marcellinus angenehm war. Aber Montaigne hatte noch etwas viel Überraschenderes gelernt: dass er dasselbe Gefühl des sanften Hinübergleitens auch dann empfand, wenn sich sein Körper wand und scheinbar in Schmerzen hin- und herwarf.
    Diese Entdeckung widersprach dem, was ihn die antiken Philosophen gelehrt hatten. Sie widersprach aber auch dem christlichen Ideal seiner eigenen Epoche. Ein Christ empfahl in seinem letztenAugenblick nüchtern seine Seele Gott, er starb nicht mit einem glückseligen «Aaaaah …» auf den Lippen. In Montaignes Todeserfahrung spielte der Gedanke an Gott offenkundig keine Rolle. Und ihm schien auch nicht einzufallen, dass ein Mensch, der betrunken und von Huren umgeben starb, ein Leben nach dem Tod im christlichen Sinn verwirkt haben könnte. Ihn interessierte vielmehr die sehr profane Erkenntnis, dass die menschliche Psyche und die Natur ganz allgemein die besten Freunde eines Sterbenden waren. Und jetzt schien es ihm, dass die Einzigen, die so tapfer starben, wie es dem Idealbild des Philosophen entsprach, von Philosophie überhaupt keine Ahnung hatten: die ungebildeten Bauern auf den Gütern und Dörfern der Umgebung. «Ich habe in meiner Nachbarschaft noch nie einen Bauern darüber nachgrübeln sehen, mit wie großer Fassung und Festigkeit er seine letzte Stunde durchstehn werde», schrieb er. Bei ihnen übernahm die Natur die Führung. Die Natur lehrte diese Menschen, erst dann an den Tod zu denken, wenn der Augenblick des Sterbens gekommen war, und selbst dann kaum. Den Philosophen fiel es schwer, die Welt zu verlassen, weil sie die Kontrolle nicht verlieren wollten. So viel zu «Philosophieren heißt sterben lernen». Die Philosophie schien den Menschen eher beizubringen, jene natürliche Fähigkeit zu verlernen , die einem Bauern angeboren war.
    Trotz seiner Bereitschaft, in den Tod hinüberzugleiten, starb Montaigne nach diesem Unfall nicht. Er erholte sich – und führte von da an ein etwas anderes Leben. Aus seinem «Versuch» über den Tod bezog er eine entschieden unphilosophische philosophische Lektion, die er folgendermaßen beschrieb:
    Falls ihr nicht zu sterben versteht – keine Angst! Die Natur wird euch, wenn es so weit ist, schon genau sagen, was ihr zu tun habt, und die Führung der Sache voll und ganz für euch übernehmen; grübelt also nicht darüber nach.
    «Habe keine Angst vor dem Tod» wurde zu seiner fundamentalen, befreienden Antwort auf die Frage, wie man leben soll. Sie befreite ihn – zum Leben.
    Aber das Leben ist schwieriger als der Tod. Statt passivem Sichergebenbedarf es der Aufmerksamkeit und des aktiven Engagements. Und das Leben kann auch schmerzlicher sein. Montaignes wohliges Sich-treiben-Lassen auf der Woge des Vergessens blieb kein Dauerzustand. Als er zwei, drei Stunden später wieder das volle Bewusstsein erlangt hatte, befielen ihn körperliche Schmerzen, seine Gliedmaßen waren «ganz zerquetscht und zerschlagen», tagelang. Und mehr als drei Jahre später schrieb er: «Noch heute spüre ich die Wucht jenes Zusammenpralls.»
    Bis die Erinnerung zurückkehrte, dauerte es länger, obwohl er tagelang versuchte, durch die Befragung von Augenzeugen über das Geschehene Klarheit zu gewinnen. Und dann stand ihm urplötzlich alles wieder vor Augen, als hätte ihn ein Blitz getroffen. Seine Rückkehr ins Leben vollzog sich so schlagartig wie sein Unfall: massiv, voller Wucht. Das Leben fuhr mit aller Macht in ihn, während der Tod etwas Sanftes und Oberflächliches gewesen war.
    Von nun an versuchte er, diese Sanftheit und Leichtigkeit des Todes ins Leben hinüberzuretten. Es gab «so viele Löcher in unsrem Weg über die Erde», heißt es in einem späten Essai , «dass wir, um sicherzugehen, möglichst leicht und oberflächlich auftreten sollten». Diese Entdeckung nahm ihm weitgehend seine Angst vor dem Tod und gab ihm gleichzeitig ein neues Gefühl dafür,
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