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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben?
Autoren: Sarah Bakewell
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Montaigne ganz für sich und nicht mehr für die Pflicht. Vielleicht unterschätzte er, wie viel Mühe ihn die Bewirtschaftungdes Landguts kosten würde, und noch lässt nichts darauf schließen, dass er vorhatte, Essais zu schreiben. Er spricht lediglich von «Ruhe» und «Freiheit». Und doch hatte er zu diesem Zeitpunkt schon mehrere kleinere literarische Projekte abgeschlossen. Eher widerwillig hatte er auf Drängen seines Vaters ein theologisches Werk übersetzt, hatte die nachgelassenen Schriften seines Freundes Étienne de La Boétie herausgegeben, Widmungen dazu verfasst und einen Brief, in dem er La Boéties letzte Lebenstage beschrieb. Während dieser Jahre um 1570, in denen er erste literarische Versuche unternahm, musste er den Tod mehrerer ihm nahestehender Menschen erleben und kam selbst in die Nähe des Todes. Er verspürte den Wunsch, sich aus dem politischen Leben in Bordeaux zurückzuziehen und ein geruhsameres Leben zu beginnen, und noch etwas geschah: Seine Frau wurde mit ihrem ersten Kind schwanger. Die Erwartung eines neuen Lebens wurde von der Erfahrung des Todes überschattet. Beides gemeinsam veränderte seine bisherige Existenz.
    Montaignes Entschluss wurde den großen Lebensumbrüchen bedeutender Protagonisten der Weltliteratur an die Seite gestellt: Don Quijote, der aufbrach, um Ritterabenteuer zu suchen; oder Dante, der sich «in seines Lebens Mitte» in einem dunklen Wald verirrte. Montaignes Schritte in das Gestrüpp des Waldes in der Mitte seines eigenen Lebens und wie er wieder herausfand – beides hinterließ Spuren: die Spuren eines Menschen, der strauchelt, stürzt und sich wieder aufrappelt.

    Juni 1568: Montaigne schließt seine Übersetzung aus dem Lateinischen ab. Sein Vater stirbt; er erbt das Anwesen.
    Frühjahr 1569: Sein Bruder stirbt nach einem Unfall beim Paume-Spiel.
    1569: Seine berufliche Karriere in Bordeaux gerät ins Stocken.
    1569 oder Anfang 1570: Der beinahe tödliche Reitunfall.
    Herbst 1569: Seine Frau wird schwanger.
    Anfang 1570: Er entschließt sich zum Rückzug aus seinen Ämtern.
    Sommer 1570: Er gibt seine Ämter auf.
    Juni 1570: Sein erstes Kind wird geboren.
    August 1570: Sein erstes Kind stirbt.
    1570: Er veröffentlicht La Boéties nachgelassene Schriften.
    Februar 1571: Er lässt die Geburtstagsinschrift in seiner Bibliothek anbringen.
    1572: Er beginnt mit der Arbeit an den Essais .
    Montaignes Turm hat als einziges Gebäude den Brand von 1885 überstanden. Im Hintergrund das Dach des inzwischen wiederaufgebauten Château de Montaigne
    Nachdem er sich diesem, wie er hoffte, kontemplativen neuen Leben überantwortet hatte, machte er sich daran, es nach seinen Vorstellungen einzurichten. Er wählte einen der beiden Rundtürme an den Ecken des Schlosskomplexes zu seinem Refugium und zu seiner Operationszentrale; den anderen Turm bezog seine Frau. Zusammen mit dem Hauptgebäude des Schlosses umgrenzten diese beiden Ecktürme einen schlichten quadratischen Hof. Ringsherum lagen Felder und Wälder.
    Das Hauptgebäude wurde 1885 bei einem verheerenden Brand zerstört und durch einen Neubau nach einem ähnlichen Entwurf ersetzt, Montaignes Turm jedoch blieb vom Feuer verschont. Er ist bis heute im Wesentlichen unverändert und kann besichtigt werden. Bei einem Rundgang erkennt man sofort, warum sich Montaigne hier wohlfühlte: Für einen vierstöckigen Turm mit Mauern so dick wie bei einer Sandburg wirkt er von außen alles andere als wuchtig, eher gedrungen. Er war zur Verteidigung errichtet, von Montaignes Vater jedoch zufriedlicheren Zwecken umgebaut worden: mit einer Kapelle im Erdgeschoss und einer schmalen, den Turmrundungen entlanglaufenden Wendeltreppe. Das Stockwerk über der Kapelle wurde Montaignes Schlafzimmer, wo er oft übernachtete, anstatt ins Hauptgebäude des Schlosses zurückzukehren. Ein paar Stufen über diesem Raum befand sich eine Nische mit einer Toilette. Und darüber wiederum, direkt unter dem Dachstuhl mit seiner «mächtigen Glocke», die ohrenbetäubend laut schlug, lag Montaignes liebster Aufenthaltsort: seine Bibliothek.
    Steigt man die ausgetretenen Steinstufen hoch und betritt die Bibliothek, hat man einen weiten Blick über den Hof und die Landschaft, wie ihn auch Montaigne genossen haben muss. Das Zimmer selbst sah wohl anders aus als heute. Es ist jetzt kahl und weiß getüncht, mit einem nackten Steinfußboden, der zu seiner Zeit wahrscheinlich mit einem Binsengeflecht bedeckt war. Im Winter brannte in den meisten
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