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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben?
Autoren: Sarah Bakewell
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verliere seinen Schrecken. Wenn man auf ihn vorbereitet sei, könne man ohne Furcht vor ihm leben. Doch Montaigne stellte fest, dass das genaue Gegenteil stimmte. Je eindringlicher er sich vor Augen hielt, was ihm oder seinen Freunden alles zustoßen konnte, desto unruhiger wurde er. Selbst wenn es ihm für einen flüchtigen Augenblick gelang, den Gedanken abstrakt zu akzeptieren, so konnte er sich doch niemals konkret an ihn gewöhnen. Seinen Geist beherrschten Bilder von Verletzungen und Fieberkrankheiten, von Menschen, die an seinem Sterbebett weinten, und von der «Berührung durch eine vertraute Hand», die sich zum Abschied auf seine Stirn legte. Er stellte sich vor, wie sich die Welt um die Lücke schloss, die sein Tod gerissen hatte; wie seine Kleider zusammengesucht und unter seinen Freunden und Bediensteten verteilt wurden. Diese Gedanken waren keine Befreiung, sie nahmen ihn gefangen.
    Zum Glück gelang es Montaigne, sich im Alter zwischen vierzig und fünfzig davon zu lösen, und er wurde heiter und unbeschwert. Jetzt konnte er leichte, lebensbejahende Essais schreiben, und seine Todesbesessenheit verschwand. Wie stark sie gewesen war, wissen wir nur, weil sein Buch davon erzählt. Doch jetzt lehnte er es ab, sich über irgendetwas den Kopf zu zerbrechen. Das Sterben «geht ja im Nu vorbei», schrieb er in einem seiner letzten Einträge zu den Essais . Es lohne sich nicht, sich deshalb zu ängstigen. Einst der trübsinnigste unter seinen Freunden, wurde er jetzt, in mittleren Jahren, zu deren sorglosestem und zu einem Meister der Lebenskunst. Kuriert hatte ihn eine dramatische Todeserfahrung, gefolgt von einer Midlife Crisis, die ihm den Anstoß gab, seine Essais zu schreiben.
    Die französischen Regionen Dordogne und Périgord
    Diese Todeserfahrung machte Montaigne 1569 oder Anfang 1570 – das genaue Datum ist unbekannt – bei einem Ausritt zu Pferd. Normalerweise zerstreute ein Ausritt seine Ängste und weitete ihm das Herz. Er war etwa sechsunddreißig Jahre alt und hatte das Gefühl, vielem entfliehen zu müssen. Nach dem Tod seines Vaters hatte er die alleinige Verantwortung für das Schloss und das Landgut der Familie in der Dordogne zu tragen, einer schönen Gegend, damals wie heute, mit Weinbergen, sanften Hügeln, Dörfern und Wäldern. Doch Montaigne empfand diese Verantwortung als eine schwere Last. Ständig musste er Entscheidungen treffen, ständig war jemand unzufrieden mit seinen Anordnungen. Doch er war der seigneur und hatte sich um alles zu kümmern.
    Wenigstens war es nicht schwierig, sich dem zu entziehen. Seit seinem vierundzwanzigsten Lebensjahr arbeitete Montaigne als Gerichtsrat im parlement oder Parlament (dem obersten Gerichtshof für Straf- und Zivilsachen, der auch Verwaltungsbefugnisse hatte) der Regionalhauptstadt Bordeaux fünfundvierzig Kilometer entfernt, und für eine Reise dorthin gab es immer einen Grund. Auch die auf verschiedene Parzellen verstreuten ausgedehnten Weinberge im Besitz der Familie mussten gelegentlich aufgesucht werden. Ab und zuschaute Montaigne auch bei den Bewohnern der umliegenden Schlösser vorbei, mit denen es galt, eine gutnachbarschaftliche Beziehung zu pflegen. Alles war ein willkommener Vorwand für einen Ausritt durch die Wälder an einem sonnigen Tag.
    Bei solchen Ausritten konnte Montaigne seine Gedanken schweifen lassen, auch wenn er stets von Bediensteten und Bekannten begleitet wurde: Im 16. Jahrhundert war kaum jemand allein unterwegs. Aber Montaigne konnte seinem Pferd die Sporen geben, um langweiligen Gesprächen zu entfliehen und seinen Tagträumen nachzuhängen. Er konnte beobachten, wie das Licht durch die Baumkronen fiel. Stimmte es tatsächlich, fragte er sich dann vielleicht, dass das Sperma des Mannes ein Ausfluss des Marks der Wirbelsäule war, wie Platon behauptete? Konnte ein kleiner Fisch wirklich so stark sein, dass er jedes Schiff, an dem er sich festsaugte, zum Stillstand brachte? Und was war mit dem erstaunlichen Vorfall, den er kürzlich zu Hause beobachtet hatte, als eine Katze den Vogel auf einem Baum so lange anstarrte, bis sich der Vogel wie tot in ihre Krallen fallen ließ? Was für eine Macht ging von der Katze aus? Solche Spekulationen nahmen Montaigne manchmal so sehr gefangen, dass er nicht auf den Weg achtete oder auf das, was seine Begleiter taten.
    Bei einer dieser Gelegenheiten ritt er mit einer Gruppe, fast allesamt Bedienstete seines Landguts, gemächlich durch den Wald, etwa eine Wegstunde von seinem
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