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Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Titel: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
Autoren: Pierre Bayard
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Schuldige hat sich diesem falschen Muster angepaßt. Und genau dieses falsche Muster hat mich schließlich auf deine Spur gebracht…‹«[ 14 ]
    Baskervilles Ansammeln falscher Schlussfolgerungen führt zu einer anderen Frage, die das Buch nicht direkt stellt, die sich aber aufdrängt, nämlich, ob seine Lösung wirklich stimmt. Gibt man zu, dass es Baskerville nicht durch die richtige Beweisführung, sondern als Schlusspunkt einer Reihe von irrigen Ableitungen gelungen ist, den Schuldigen zu überführen und das Buch zu finden, gibt es keinen Beweis dafür, dass seine Folgerungen richtig sind. Sobald der Roman uns die Abenteuer eines Ermittlers vorstellt, der sich ohne Ende irrt, wird es schwierig, die Folgerungen, zu denen er sich beglückwünscht, für bare Münze zu nehmen.[ 15 ]
    Ein doppelter Irrtum, über Buch und Mörder, ist also nicht auszuschließen, und der Gedanke, dass Baskerville im einen Fall recht und im anderen unrecht gehabt haben könnte, lässt sich nicht einfach von der Hand weisen. Geht man davon aus, dass Jorge der Mörder ist, was erst noch bewiesen werden muss, so liegt es ganz in seinem Interesse, Baskerville in der Illusion zu ermutigen, es handele sich bei dem geheimnisvollen Buch um den zweiten Band von Aristoteles’Poetik, vor allem, wenn er ein noch gefährlicheres Buch schützen möchte. Angesichts der ironischen Haltung, die Jorge bis zum Ende beibehält, ohne Baskervilles Lösung wirklich zu bestätigen, ist jedenfalls ein Zweifel erlaubt über deren Richtigkeit, die nach so vielen Irrtümern zumindest fragwürdig scheint.
    ∗
    Stärker noch als unsere anderen Beispiele illustriert Ecos Roman die Tatsache, dass die Bücher, über die wir sprechen, nur wenig zu tun haben mit den »realen« Büchern – wie sollte man auch an sie herankommen? – und sehr oft nichts anderes als
Deckbücher[ 16 ]
sind. Oder, wenn man es vorzieht, dass man nicht über Bücher spricht, sondern über Ersatzobjekte, die zu einem bestimmten Anlass fabriziert werden.
    Faktisch gesehen ist Aristoteles’ Buch als Erstes ein weitgehend virtueller Gegenstand, da weder Jorge noch Baskerville Zugang dazu haben. Jorge hat schon vor Jahren das Sehvermögen verloren und muss sich also seine Vorstellung einzig anhand seiner Erinnerungen machen, die auch noch durch seinen Wahn verformt werden. Und was Baskerville betrifft, so kann er es nur flüchtig durchblättern und muss sich vor allem auf das Bild verlassen, das er sich darüber gemacht hat, und wie zweifelhaft das ist, haben wir gesehen. So kann man mit Sicherheit sagen, dass die beiden nicht vom selben Buch sprechen, da jeder sich in einem unvergleichbareninneren Prozess einen imaginären Gegenstand konstruiert.
    Die Unmöglichkeit des Zugangs zum Text akzentuiert so noch den Charakter des Werkes als Projektion, das zum Sammelbecken der Phantasmen der beiden wird. Jorge nimmt Aristoteles’ Buch zum Vorwand seiner Ängste angesichts der Probleme der Kirche, und Baskerville sieht darin ein zusätzliches Element seiner relativistischen Gedanken über den Glauben. Phantasmen, die umso weniger Chancen haben, miteinander übereinzustimmen, es sei denn als gemeinsame Illusion, als keiner der beiden Männer den Text im eigentlichen Sinn in der Hand hat.
    Um sich davon zu überzeugen, dass jedes Buch, über das wir sprechen, nur ein Deckbuch und ein Ersatzelement ist in dieser unendlichen Kette, die von der Gesamtheit der Bücher gebildet wird, so reicht eine einfache Erfahrung. Man braucht nur die Erinnerungen eines Buches, das man als Kind geliebt hat, mit dem »realen« Buch zu vergleichen, um zu sehen, wie sehr unser Gedächtnis über die Bücher, vor allem wenn sie uns so wichtig waren, dass sie Teil von uns geworden sind, durch unsere gegenwärtige Situation und ihre unbewussten Einsätze endlos umorganisiert wird.
    Dieser Charakter des Deckbuches räumt dem, was der Leser über ein Buch weiß oder zu wissen meint, und somit den geäußerten Meinungen darüber einen wichtigen Platz ein. Zu einem großen Teil beziehen sich die Gespräche, die wir über Bücher führen, in Wirklichkeit auf andere Gespräche, die über andere Bücher geführt wurden, und so weiter. Und für diese verschachtelten Reden, in denen das Buch hinter dem Sprechen verschwindet, ist die Klosterbibliothek,als Ort des unendlichen Kommentars schlechthin, ein erhellendes Symbol.
    Die Gespräche, die wir mit uns selbst führen, bilden dabei eine nicht zu vernachlässigende Größe. Denn unsere
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