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Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Titel: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
Autoren: Pierre Bayard
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(nebst der Satire und dem Mimus) und darlegen, wie sie durch Erweckung von Vergnügen am Lächerlichen zu einer Reinigung von ebendieser Leidenschaftführt. Inwiefern diese Leidenschaft der Beachtung wert ist, haben wir schon im Buch über die Seele gezeigt, insofern nämlich der Mensch als einziges aller Lebewesen zum Lachen fähig ist. Wir werden im folgenden also bestimmen, von welcher Art Handlung die Komödie eine Nachahmung ist. Dann werden wir untersuchen, wie und wodurch die Komödie zum Lachen reizt, nämlich durch die dargestellte Geschichte und durch die Redeweise. Wir werden zeigen, wie das Lächerliche der Geschichte entsteht aus der Angleichung des Besseren an das Schlechtere und umgekehrt […]. Anschließend werden wir darlegen, wie das Lächerliche der Redeweise entsteht aus den Mißverständnissen durch ähnliche Wörter für verschiedene Dinge und verschiedene Wörter für ähnliche Dinge …«[ 4 ]
    Es scheint sich also zu bestätigen, insbesondere durch die Erwähnung der anderen Titel von Aristoteles, dass es sich bei dem geheimnisvollen Werk tatsächlich um den zweiten Band seiner
Poetik
handelt. Nachdem er die erste Seite gelesen und ins Lateinische übersetzt hat, fängt Baskerville an, in aller Eile die nächsten Seiten durchzublättern, stößt aber plötzlich auf physischen Widerstand, da ein paar beschädigte Seiten miteinander verklebt sind, und außerdem wird er durch die Handschuhe noch zusätzlich behindert. Jorge drängt ihn, weiterzublättern, doch Baskerville weigert sich entschlossen.
    Er hat begriffen, dass er die Handschuhe ausziehen unddie Finger befeuchten müsste, um die Seiten zu wenden, und dass er sich dann genau wie die anderen Mönche, die der Wahrheit zu nahe kamen, vergiften würde. Denn Jorge hat beschlossen, unerwünschte Forscher durch ein Gift loszuwerden, das er auf dem oberen Teil des Buches angebracht hat, genau da, wo die Finger des Lesers ansetzen. Ein exemplarischer Mord, bei dem das Opfer sich ganz allein vergiftet, und zwar genau in dem Maße, wie es sich über das von Jorge aufgestellte Verbot hinwegsetzt und mit seiner Lektüre fortfährt.[ 5 ]
    ∗
    Warum aber werden all jene, die sich für den zweiten Band von Aristoteles’
Poetik
interessieren, systematisch umgebracht? Als er von William danach gefragt wird, bestätigt Jorge die Ahnungen des ermittelnden Mönches. Die Morde wurden begangen, um die Mönche daran zu hindern, den Inhalt des Buches kennenzulernen. Denn dieses handelt vom Lachen, das von Aristoteles nicht verdammt, sondern zum Studienobjekt erhoben wird, und für Jorge verhält sich das Lachen antinomisch zum Glauben. Indem es sich das Recht herausnimmt, alles lächerlich zu machen, öffnet es den Weg zum Zweifel, was der Feind der offenbarten Wahrheit ist:
    »Aber was schreckt dich so sehr an dieser Abhandlung über das Lachen? Du schaffst das Lachen nicht aus der Welt, indem du dieses Buch aus der Welt schaffst.‹
    ›Nein, gewiß nicht. Das Lachen ist die Schwäche, dieHinfälligkeit und Verderbtheit unseres Fleisches. Es ist die Kurzweil des Bauern, die Ausschweifung des Betrunkenen, auch die Kirche in ihrer Weisheit hat den Moment des Festes gestattet, den Karneval und die Jahrmarktsbelustigung, jene zeitlich begrenzte Verunreinigung zur Abfuhr der schlechten Säfte und zur Ablenkung von anderen Begierden, anderem Trachten … Aber so bleibt das Lachen etwas Niedriges und Gemeines, ein Schutz für das einfache Volk […] Aber hier,
hier
…‹, Jorge pochte mit steifem Finger auf den Tisch dicht neben das Buch, das William vor sich hielt, ›hier wird die Funktion des Lachens umgestülpt und zur Kunst erhoben, hier werden ihm die Tore zur Welt der Gebildeten aufgetan, hier wird das Lachen zum Thema der Philosophie gemacht, zum Gegenstand einer perfiden Theologie …‹«[ 6 ]
    Das Lachen stellt also durch den Zweifel, der wesentlich zu ihm gehört, eine Gefahr für den Glauben dar. Und diese Gefahr ist im vorliegenden Fall umso größer, als der Autor des Buches Aristoteles heißt, dessen Einfluss im Mittelalter beträchtlich war:
    »›Es gibt viele Bücher, die von der Komödie handeln und das Lachen preisen. Warum hat dich dieses eine so sehr erschreckt?‹
    ›Weil es vom PHILOSOPHEN stammt. Jedes Werk dieses Denkers hat einen Teil der Weisheit zerstört, die in den Jahrhunderten von der Christenheit aufgehäuftworden ist. Die Patres hatten alles gesagt, was man wissen mußte über das Verbum Dei und seine Kraft, doch es
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