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Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Titel: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
Autoren: Pierre Bayard
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Besonderen schwärmen und die nun, als sie Dexter endlich einmal vor sich haben und ihm ihre Bewunderung zum Ausdruck bringen können, durch fachmännische Fragen auf sich aufmerksam machen wollen:
    »Eine freundlich aussehende Frau in einem handgestrickten Jumper sagte wehmütig: ›Finden Sie nicht auch, Mr. Dexter, daß niemand, niemand so poetisch über Gefühle geschrieben hat wie Virginia Woolf? In Prosa, meine ich.‹
    Crabbin flüsterte: ›Sie könnten etwas über den schöpferischen Bewußtseinsstrom erzählen.‹
    ›Über was für einen Strom?‹«[ 6 ]
    Auch die Frage nach den Schriftstellern, die sein Werk beeinflusst haben, bringt Martins rasch in Schwierigkeiten, da er zwar durchaus Vorbilder hat, sich aber zu einer ganz anderen literarischen Gattung zählt als sein gleichnamiger Kollege, nämlich zur Unterhaltungsliteratur:
    »›Mr. Dexter, würden Sie uns bitte sagen, welcher Schriftsteller Sie am stärksten beeinflußt hat?‹
    Gedankenlos antwortete Martins: ›Grey.‹ Er meinte natürlich den Verfasser von ›Das Gesetz der Mormonen‹[ 7 ],und stellte mit Genugtuung fest, daß diese Auskunft alle Anwesenden befriedigte – ausgenommen einen bejahrten Österreicher, der sofort fragte: ›Grey? Was für ein Grey? Der Name ist mir unbekannt.‹
    Martins fühlte sich auf sicherem Boden und erwiderte: ›Zane Grey – einen anderen kenne ich nicht‹, und war verblüfft von dem leisen, unterwürfigen Gelächter, das von der englischen Kolonie im Publikum kam.«[ 8 ]
    Dass Martins einfach irgendeinen Unsinn antwortet, hat offensichtlich keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Diskussion, die ihren normalen Verlauf nimmt. Das hat damit zu tun, dass der Dialog sich in einem irrealen Raum abspielt, in einer imaginären Welt, die anderen Gesetzen unterliegt als unsere gewöhnlichen Unterhaltungen.
    ∗
    Da Crabbin aber doch spürt, dass Martins in Schwierigkeiten ist, schaltet er sich schließlich ein, doch mit seinem Eingreifen macht er die Lage unfreiwillig noch komplizierter, weil er das Missverständnis zwischen Autor und Publikum weiter verstärkt:
    »Das war ein kleiner Scherz von Mr. Dexter. Er meinte den Dichter Gray – einen feinen, sanften, subtilen Genius –, man sieht sofort die geistige Verwandtschaft.‹
    ›Und er heißt Zane Grey?‹
    ›Nein, darin lag eben Mr. Dexters Scherz. Zane Greyschrieb sogenannte Wildwestromane – billige, populäre Abenteuergeschichten über Banditen und Cowboys.‹
    ›Und er ist kein großer Schriftsteller?‹
    ›Nein, nein, weit davon entfernt, sagte Mr. Crabbin. ›Strenggenommen würde ich ihn überhaupt nicht als Schriftsteller bezeichnen.«[ 9 ]
    Mit diesen Worten aber fordert Crabbin Martins heraus, muss er sie doch als Angriff auf den Bereich der Literatur auffassen, der sein persönliches Universum, ja seinen Lebensinhalt ausmacht. Und so beginnt sich Martins, der sich unter normalen Umständen gar nicht als Schriftsteller betrachtet, schließlich doch als einer zu fühlen, als ihm diese Eigenschaft öffentlich abgeschrieben wird:
    »Martins erzählte mir, daß bei dieser Behauptung in ihm erstmals etwas zu revoltieren begonnen habe. Er hatte sich nie als Schriftsteller betrachtet, aber Crabbins Selbstzufriedenheit reizte ihn – selbst die Art, wie sich in Crabbins dicken Brillengläsern blitzend das Licht brach, schien seinen Ärger zu erhöhen. Crabbin fuhr fort: ›Er ist nichts weiter als ein volkstümlicher Unterhaltungsschriftsteller …‹
    ›Und was, zum Teufel, spricht dagegen?‹ fiel ihm Martins heftig ins Wort.
    ›Ah, mh – ich meinte ja nur …‹
    ›Was war Shakespeare?‹«[ 10 ]
    Damit ist das Ganze vollends unentwirrbar geworden, da Crabbin – der einem Schriftsteller zu Hilfe eilen will, der die Bücher, über die er spricht, nicht gelesen hat, weil er sie nicht geschrieben hat – sich selbst in die gleiche Lage manövriert, denn er sieht sich nun ebenfalls genötigt, über Bücher zu sprechen, die er nicht kennt, was ihm Martins auch postwendend unter die Nase reibt:
    »Haben Sie jemals Zane Grey gelesen?‹
    ›Nein, eigentlich nicht…‹
    ›Dann wissen Sie gar nicht, wovon Sie reden.‹«[ 11 ]
    Eine Replik, der man kaum widersprechen kann, auch wenn Crabbin sein Urteil von dem Platz herleitet, den Grey in dieser kollektiven Bibliothek einnimmt, die uns erlaubt, eine Vorstellung über Bücher zu entwickeln. Aufgrund des Genres, zu dem seine Romane gehören, ihres Titels und Martins’ eigenen Anspielungen ist er
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