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Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Titel: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
Autoren: Pierre Bayard
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gedeutet: Ein Herr, »den er schon auf zehn Meter Entfernung als Journalisten erkannte«, näherte sich seinem Tisch.
›Mr. Dexter?‹ fragte er.
›Ja‹, antwortete Martins in seiner Verblüffung.
›Sie sehen jünger aus als auf Ihren Fotos‹, sagte der andere.[…]
›Wie wär’s mit einem Urteil über den amerikanischen Roman?‹
›Ich lese keine‹, antwortete Martins.
›Der wohlbekannte bissige Humor‹, sagte darauf der Journalist.‹« (Op.cit. S. 17)
    15 Zu diesem Begriff siehe mein Buch
Enquête sur Hamlet. Le dialogue de sourds,
VB –, Paris 2002.
    16 Als zweite von drei Bibliotheken, die ich in diesem Buch einführen werde, ist die
innere Bibliothek
der subjektive Teil der
kollektiven Bibliothek
und umfasst alle Bücher, die für ein Subjekt prägend sind.

Zweites Kapitel
EINEM LEHRER GEGENÜBER
    in dem sich beim Volksstamm der Tiv bestätigt, dass es absolut unnötig ist, ein Buch aufzuschlagen, um darüber eine kluge Meinung abzugeben, auch wenn das den Wissenschaftlern nicht gefällt
    A LS L EHRENDER BIN ICH wiederholt in die Situation geraten, vor einem großen Publikum Bücher kommentieren zu müssen, die ich nicht gelesen hatte, sei es im strengen Sinn – dass ich sie gar nicht erst aufgeschlagen hatte – oder in abgemilderter Form – dass ich sie nur überflogen oder wieder vergessen hatte. Ich bin nicht sicher, ob ich mich viel besser aus der Affäre gezogen habe als Rollo Martins, doch habe ich oft versucht, mir Mut zu machen, indem ich mir sagte, dass es meinen Zuhörern wahrscheinlich ähnlich ging und sie sich ihrer Sache auch nicht allzu sicher waren.
    Im Lauf der Jahre konnte ich feststellen, dass sich manche meiner Studenten in einer solchen Situation keineswegs verunsichern lassen und sich immer wieder scharfsinnig, ja sogar recht präzise über ungelesene Bücher äußern, wobei sie sich auf die wenigen Elemente stützen, die ich ihnen, beabsichtigt oder nicht, geliefert habe. Um dort, wo ich unterrichte, niemanden in Verlegenheit zu bringen, wähle ich ein Beispiel, das zwar geografisch abgelegen, uns im Inhalt aber nah ist, das Beispiel der Tiv.
    ∗
    Man kann die Tiv, die in Westafrika leben, zwar kaum als Studenten bezeichnen, doch genauso müssen sie sich vorgekommen sein, als eine Anthropologin namens Laura Bohannan sie mit einem Stück klassischer englischer Literatur bekannt zu machen versuchte, von dem sie noch nie gehört hatten, nämlich mit
Hamlet
[ 1 ].
    Ihre Präsentation von Shakespeares Werk ist nicht ganz uneigennützig. Laura Bohannan ist Amerikanerin, und da sie gegenüber einem englischen Kollegen, der den Amerikanern die Fähigkeit absprach, Shakespeare zu verstehen, die Meinung vertreten hat, die menschliche Natur sei überall gleich, sieht sie sich von ihm herausgefordert, den Beweis dafür anzutreten. So führt sie, als sie nach Afrika aufbricht,
Hamlet
im Gepäck, in der Hoffnung, die Bestätigung zu finden, dass sich der Mensch über die kulturellen Unterschiede hinweg identisch bleibt.
    Laura Bohannan findet Aufnahme in der Dorfgemeinschaft, bei der sie sich schon einmal aufgehalten hat, und wohnt auf dem Gehöft eines sehr weisen alten Mannes, Oberhaupt einer Gruppe von etwa hundertvierzig Menschen, die alle mehr oder weniger nah mit ihm verwandt sind. Die Anthropologin hätte sich mit ihren Gastgebern gerne über die Bedeutung ihrer Zeremonien unterhalten, diese aber verbringen die meiste Zeit mit Biertrinken. So bleibt ihr, allein in ihrer Hütte, nichts anderes übrig, als sich der Lektüre von Shakespeares Stück zu widmen, für das sie schließlich eine Interpretation findet, die ihr von zwingender Universalität scheint.
    Doch die Tiv haben bemerkt, dass Laura Bohannan viel Zeit mit dem Lesen des ewig gleichen Textes verbringt und fordern sie neugierig auf, ihnen diese Geschichte zu erzählen, die sie so zu faszinieren scheint. Sie bitten sie, ihnen dabei sämtliche nötigen Erklärungen zu geben, und versprechen ihr im Gegenzug, großzügig über ihre sprachlichen Fehler hinwegzusehen. So bietet sich ihr die ideale Gelegenheit, ihre Hypothese zu überprüfen und den universell verständlichen Charakter von Shakespeares Stück unter Beweis zu stellen.
    ∗
    Die Probleme aber beginnen bereits, als Laura Bohannan am Anfang des Stückes zu erklären versucht, wie eines Nachts drei Männer, die vor dem Haus des großen Häuptlings Wache standen, plötzlich den verstorbenen Häuptling auf sich zukommen sahen. Erster Stein des Anstoßes, denn für
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