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Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Titel: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
Autoren: Pierre Bayard
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wenn nicht übers Lesen, auch Zugang zum Buch erhalten, wenn man auf diesen Austausch achtet.
    Aufgrund von Äußerungen dieser Art ist es Baskerville gelungen, den Inhalt von Aristoteles’ Buch zu kennen. Dem vor Bewunderung staunenden Jorge (»genauso ist es gewesen«[ 9 ]), der ihn fragt, wie er es fertiggebracht habe, einen Text nachzuzeichnen, den er nicht in den Händen gehalten hat, erklärt Baskerville, dass er sich von den Recherchen hat inspirieren lassen, die Venantius angestellt hat, der ermordete Mönch, der ihm in dieser Suche vorangegangen war und Indizien zurückgelassen hat:
    »›Ein paar Notizen, die sich Venantius gemacht hatte, halfen mir weiter. Ich verstand zuerst nicht, was sie bedeuteten, aber da waren Bezugnahmen auf einen Felsblock, der über die Ebene rollt, auf Zikaden, die am Boden singen, und auf verehrungswürdige Feigen. Das kam mir bekannt vor, ich hatte dergleichen schon irgendwo gelesen. Ich habe es nachgeprüft in diesen Tagen: Es sind Beispiele, die Aristoteles im ersten Buch der Poetik und in der Rhetorik[ 10 ] zitiert. Dann fiel mir ein, daß Isidor von Sevilla sagt, die Komödie erzähle von Jungfrauenschändung und Dirnenliebe:
de stupris virginum et meretricum amoribus…
‹ «[ 11 ]
    Schriftliche – Venantius’ Anmerkungen –, aber auch mündliche Äußerungen – die Worte all derer, die sich dem geheimnisvollen Buch manchmal unwissentlich genähert haben –, ohne die vielen Reaktionen zu vergessen, die es ausgelöst hat, angefangen bei den Morden, haben es Baskerville erlaubt, es sich, noch bevor er es in Besitz bekommen hat, zunehmend klarer vorzustellen und es sogar rekonstruieren zu können. Denn auch dieses Buch, so originell und skandalös es auch sein mag, ist kein isolierter Gegenstand, sondern hat, wie alle Bücher, an dem Ganzen dieser kollektiven Bibliothek Teil, von der wir weiter oben gesprochen haben, in die es sich auf natürliche Weise eingliedert.
    Genau darum, weil es seinen Platz in der kollektiven Bibliothek hat, deren Grundlagen es erschüttert, hat Jorge sich übrigens zum Mord entschlossen. Das Buch stellt als Erstes eine Gefahr dar für die Klosterbibliothek, da es noch mehr Mönche an diesen Ort der Entdeckung und des Verlusts zu locken droht, wie es Bildung stets bedeutet. Doch über diese reale Bibliothek hinaus ist das körperlose Ganze der menschlichen Bibliothek durch den zweiten Band von Aristoteles’ Poetik bedroht, jedenfalls in den Augen Jorges. Die Lektüre der anderen Werke dieser Bibliothek, insbesondere der Bibel, kann durch Aristoteles’ Band verändert werden, da ein einziges Buch die Fähigkeit hat, alle anderen in der unendlichen Kette von Büchern, durch die sie miteinander verbunden sind, zu verrücken.
    ∗
    Durch die berühmte Handlung von
Der Name der Rose
sind zwei wichtige Elemente, die zu Ecos Roman gehören, in denSchatten geraten, die für unser Thema nicht unbedeutend sind. Als Erstes gelangt der Ermittler nicht, wie es sein Name und die Geschicklichkeit, mit der er sich ein Bild über Aristoteles’ Buch zu machen weiß, vermuten lassen könnten, durch eine unerbittliche Logik, sondern in Wirklichkeit durch eine Reihe von falschen Folgerungen zur Wahrheit.
    Das letzte Gespräch mit Jorge ermöglicht es Baskerville nicht nur, den mutmaßlichen Mörder zu entlarven, er begreift bei dieser Gelegenheit auch, wie sehr er sich mit seinen Folgerungen geirrt hat. Denn nach seiner Analyse der ersten Todesfälle hat Baskerville zu Unrecht geschlossen, dass der Mörder die Prophezeiungen der Apokalypse wortwörtlich befolgte und dass die Verbrechen mit dem Text von den sieben Trompeten übereinstimmen.[ 12 ]
    Doch der Weg zur Wahrheit entpuppt sich im Nachhinein als noch komplexer, da Jorge, der Baskerville nachspioniert und hört, wie er sich seine phantastischen Interpretationen um die Apokalypse herum aufbaut, beschließt, ihn in die Irre zu führen und ihm falsche Indizien zu beschaffen, mit denen sich seine These stützen lässt. Und als Gipfel des Paradoxes täuscht der Mörder Baskerville so lange, bis er schließlich selbst der Täuschung verfällt, wenn er sich einredet, die Todesfälle seien durch einen Plan der Vorhersehung angeordnet.[ 13 ] So gelangt Baskerville zur Feststellung,dass er die Wahrheit zwar herausgefunden hat, aber nur dank der willkürlichen Anhäufung seiner eigenen Irrtümer:
    »›Dann habe ich mir ein falsches Muster zurechtgelegt, um mir die Schritte des Schuldigen zu erklären, und der
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