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Wie man leben soll: Roman (German Edition)

Wie man leben soll: Roman (German Edition)

Titel: Wie man leben soll: Roman (German Edition)
Autoren: Thomas Glavinic
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unerfahrene Lingam eines nervösen und frustrierten Siebzehnjährigen ist kein Instrument, auf das dauerhaft Verlass wäre. Doch einmal von der Ummantelung des Kondoms befreit und vielleicht von einem gütigen Blick der Liebesgöttin unterstützt, ereignet sich das Wunder: Man trifft – und man dringt ein.
    Unglaube. Große Aufregung. Erschrockene Blicke. Was ist nun zu tun?
    Man beginnt sanft, sanft, sanft mit koitalen Bewegungen. Alle zehn bis zwanzig Sekunden erkundigt man sich bei Claudia, ob man ihr Schmerzen bereite. Weder ein klares Ja noch ein Nein ist ihr zu entlocken. Darauf darf man weiter fuhrwerken. Allem Gazettenwissen zum Trotz entblödet man sich nicht, Claudia dann und wann zu fragen, ob sie schon einen Orgasmus hatte.
    Die ersten Minuten in Claudia sind aufwühlend, und man vergisst sie nie. So also fühlt sich das an, denkt man. Trotz der holprigen Ausführung der Prozedur ist man begeistert. Dass das Beste bevorsteht, wird einem gar nicht bewusst. Man agiert wie ein ahnungsloser Autofahrer, der im ersten Gang Vollgas gibt, weil er den Schalthebel nicht zu bedienen versteht: Der Motor brüllt und heult. Aber anstatt eines technischen Gebrechens stellt sich unweigerlich der Höhepunkt ein. Dieses Gefühl, das man vom Masturbieren (Gasgeben im Leerlauf) schon lange kennt, das beim Geschlechtsakt jedoch zu etwas Unvergleichlichem gerät.
    Großes Glück.
    Wenn man zum ersten Mal beim Geschlechtsverkehr zum Höhepunkt kommt, gibt man keinen Laut von sich und wendet das Gesicht ab. Zu groß ist die Gefahr, akustisch an Vieh beim Schlachten zu erinnern. Und das Mienenspiel beim Orgasmus, das man aus gewissen Filmen kennt, ist in den seltensten Fällen intelligent zu nennen.
    Nach dem Ereignis liegen beide erschöpft nebeneinander. Das Sexuelle ist Nebensache: Man ist froh, es geschafft zu haben. Viel erwachsener kann man nicht mehr werden. Man umarmt Claudia. Küsst sie. Streichelt sie. Raucht eine Zigarette. Liebt Claudia innig. Hätte gern Mitwissende. Stellt fest, dass Veronika verschwunden ist.
    Da die Sonne an diesem Spätherbstnachmittag besonders schön strahlt, steigt man aufs Moped. Claudia, noch ganz durcheinander,nimmt auf dem Sozius Platz und verbrennt sich am Auspuffrohr die Wade. Man fährt zu einem Café, wo sich die Klasse zu treffen pflegt.
    An einem Tisch im Freien nimmt man Platz. Bestellt Kaffee und genießt den Moment. Den Kopf dreht man wie ein Rabe, um vorbeikommende Bekannte zu erspähen. Wenn endlich fünf oder sechs Freunde am Tisch sitzen, beteiligt man sich nicht an der Unterhaltung. Man hält mit Claudia Händchen, hofft, dass die eigenen Augen ebenso glänzen wie die ihren, und lässt sich von den Blicken der anderen streicheln.
    Man hört nicht, was Claudia einem zuflüstert. Man ist in einen Tagtraum versunken. Man ist stark, trägt das Haar lang, kommt mit dem Motorrad zur Schule. Alle Mitschüler schauen einen an, alle wissen, dass man schon Sex hatte, dass man ein Mann ist. Im nächsten Moment steht man auf einer Bühne. Vor der ganzen Schule gibt man ein Konzert. Man singt für Claudia, die in der ersten Reihe sitzt,
Woman
. Man geht auf sie zu und singt sie an. Alle weiblichen Zuschauer sind eifersüchtig. Tosender Applaus folgt. Vor allen Menschen küsst man Claudia innig.
    – Was ist los, Charlie, du schaust drein, als hättest du eine Ratte gefressen!
    Man starrt Paul an. Zögernd stimmt man in das Lachen der anderen ein. Aber gleich lächelt man wieder vor sich hin.
    Keine Jungfrau mehr.
     
    Merke: Wenn man zum ersten Mal Sex hat, stößt man eine Tür auf. Und der Raum dahinter bietet Sensationen, die man sich noch nicht vorstellen kann.

 
    Gerichtserfahrung als mehr oder minder Unbeteiligter, als Zeuge etwa, kann nicht schaden, und so ist es eine hochinteressante Angelegenheit, wenn die Mutter unter dem Einfluss von Barbituraten und Obstschnaps mit einem Schürhaken die Nachbarin verprügelt. Da das Opfer keine schweren Verletzungen zu beklagen hat, besteht keine Gefahr, dass das häusliche Idyll durch Inhaftierung eines Familienmitglieds zerstört wird.
    Schon das Eintreffen der Funkstreife ist ein Abenteuer. Polizisten läuten an, fragen nach der Übeltäterin, während aus der nachbarlichen Wohnung Schmerzensschreie und Laute der Empörung dringen.
    – Dieses Luder! Dieses Dreckschwein! Verhaften Sie sie, nehmen Sie sie mit! Da, schauen Sie, sehen Sie das Blut?
    – Beruhigen Sie sich! Haben Sie keinen Arzt gerufen?
    Man selbst sieht es als seine
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