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Wie man einen verdamt guten Roman schreibt (Teil 2)

Wie man einen verdamt guten Roman schreibt (Teil 2)

Titel: Wie man einen verdamt guten Roman schreibt (Teil 2)
Autoren: James N. Frey
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Figur haben kann, wenn diese bewunderungswürdig ist. Das ist ganz offenkundig falsch. Die meisten Leser haben sehr viel Sympathie für eine Figur wie Defoes Moll Flanders oder Dickens’ Fagin in Oliver Twist oder für Long John Silver in Stevensons Schatzinsel. Dennoch sind diese Figuren absolut nicht bewunderungswürdig. Moll Flanders ist eine Lügnerin, Diebin und Bigamistin; Fagin führt Jugendliche ins Verderben; Long John Silver ist ein Schurke, Betrüger und Pirat.
    Vor Jahren gab es einen Film mit dem Titel Wie ein wilder Stier über den ehemaligen Boxchampion im Mittelgewicht Jake LaMotta. Der Held des Films schlug seine Frau und ließ

sich von ihr scheiden, als er die ersten Erfolge im Ring hatte. Er verführte minderjährige Mädchen, war jähzornig, litt unter Verfolgungswahn und wenn er den Mund aufmachte, kam nur ein Grunzen heraus. Sowohl im Ring als auch außerhalb war er ein absoluter Wüstling. Dennoch löste die Figur des LaMotta, gespielt von Robert De Niro, beim Publikum sehr viel Sympathie aus.
    Wie wurde dieses Wunder vollbracht?
    Am Anfang des Films ist LaMotta ein absolutes Nichts. Er lebt in Armut und Erniedrigung, und das Publikum hat Mitleid mit ihm. Das ist das Entscheidende: Um beim Leser Sympathie für eine Figur auszulösen, müssen Sie dafür sorgen, daß die Figur dem Leser leid tut. In Victor Hugos Die Elenden wird Jean Valjean eingeführt, wie er müde in einer Stadt ankommt und in den Gasthof geht, um etwas zu essen. Obwohl er Geld hat, wird er nicht bedient. Er kommt fast um vor Hunger. Der Leser muß einfach Mitleid mit diesem unglücklichen Mann haben, ganz gleich, was für ein furchtbares Verbrechen er begangen hat.
    • In Der weiße Hai (1974) führt Peter Benchley seinen Protagonisten Brody ein, als dieser gerade einen Anruf bekommt und ihm mitgeteilt wird, daß er nach einer Frau suchen soll, die im Meer verschwunden ist. Da der Leser bereits weiß, daß die Frau einem Hai zum Opfer gefallen ist, weiß er auch, was Brody bevorsteht. Also wird der Leser Mitleid mit ihm haben. • In Carrie (1994) führt Stephen King die Hauptfigur folgendermaßen ein: »Mädchen reckten und dehnten sich unter den heißen Wasserstrahlen, bespritzten sich gegenseitig, warfen weiße Seifenstücke von Hand zu Hand. Carrie stand phlegmatisch inmitten der anderen, ein Frosch unter Schwänen.« King beschreibt sie als dick, pickelig und so weiter. Sie ist häßlich und wird von den anderen aufgezogen. Die Leser haben mit Sicherheit Mitleid mit Carrie.
    • In Stolz und Vorurteil (1813) stellt Jane Austen uns ihre Heldin Elizabeth Bennet auf einem Ball vor, als Mr. Bingley seinen Freund Mr. Darcy zu überreden versucht, mit ihr zu tanzen. Darcy sagt: »>Welche meinst du denn?< Er drehte sich um, schaute einige Sekunden lang Elizabeth an, bis er, ihren Blick auf sich ziehend, den seinen abwandte und kühl bemerkte: >Sie ist leidlich hübsch, aber nicht schön genug, um einen Menschen wie mich zu locken.. .<« Ganz bestimmt hat der Leser Mitleid mit Elizabeth, weil sie so gedemütigt wird.
    • In Verbrechen und Strafe (1872) stellt Dostojewskij uns Raskolnikow von einer »peinigenden und feigen Empfindung« ergriffen vor, weil er seiner Wirtin Geld schuldet und in einen »reizbaren und angespannten Zustand« verfallen ist. Der Leser muß zwangsläufig Mitleid mit einem Mann haben, der unter so furchtbarer Armut leidet.
    • Im Prozeß (1937) stellt Kafka uns Josef K. im Augenblick seiner Verhaftung vor. Damit zwingt er den Leser, Mitleid mit dem armen K. zu haben.
    • In Das rote Tapferkeitsabzeichen (1895) begegnen wir Henry, dem Protagonisten, als »jungem, einfachen Soldat« in einer Armee, die kurz davor steht, in die Schlacht zu ziehen. Er hat furchtbare Angst. Natürlich wird der Leser Mitleid mit ihm haben.
    • Das erste, was wir in Vom Winde verweht (1936) über Scarlett O’Hara erfahren ist, daß sie eigentlich nicht schön ist und versucht, einen Mann zu ergattern. In Liebesdingen hat der Leser immer Mitleid mit denjenigen, die noch keinen Partner gefunden haben.
    Es gibt noch weitere Situationen, die automatisch beim Leser Sympathie auslösen. Zustände wie Einsamkeit, Ungeliebtsein, Demütigung, Armut, Unterdrückung, Beschämung, Gefahr - praktisch jede Zwangslage, die körperliches oder seelisches Leiden für die Figur bedeutet - werden Mitleid beim Leser erzeugen.
    Sympathie ist das Mittel, über das der Leser emotionalen Zugang zu einer Geschichte bekommt. Ohne Sympathie ist der
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