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Wie immer Chefsache

Wie immer Chefsache

Titel: Wie immer Chefsache
Autoren: Martin Ruetter
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einziges Mal in den Flur von Tante Thea getraut, aber er, Mattes Reuter, immer wieder.
    Er erinnerte sich noch gut. Er war damals noch in der Grundschule, als seine Tante Arco als Pflegehund annahm. Eine geschickte Tarnung, denn sein Onkel war strikt gegen einen Hund gewesen und Tante Thea konnte auf diese Weise jahrelang behaupten, der Hund wäre nur vorübergehend da und könne jederzeit wieder abgeholt werden. Dass die Pflegestelle für immer war, war jedem klar, auch Onkel Günther, der aber sein Gesicht gewahrt sah, weil der Hund offiziell nicht der eigene war. Da Tante Thea ihre Pflegehunde in kürzester Zeit zu gefährlichen und nicht mehr vermittelbaren Problemfällen machte, bestand keine Gefahr, dass sie sie jemals wieder hätte abgeben müssen.
    Tante Thea war die ältere Schwester seiner Mutter und wohnte mit dem ausgestopften Onkel Günther und drei ausgestopften Söhnen nur einige Straßen entfernt von Mattes in einem der roten Zechenhäuser, die typisch für die kleinen Siedlungen im Ruhrpott waren. Vermutlich waren Onkel Günther und die Söhne gar nicht ausgestopft, aber Mattes kam es so vor. Sie waren nie weg bei einer Arbeit, sondern saßen im Wohnzimmer auf dem Sofa und starrten auf den Fernseher. Über ihre prallen, festen Bäuche spannten sich weiße Feinripp-Unterhemden. Seltsamerweise konnten sie laufen und das Zimmer verlassen, aber sie konnten nicht reden. Oder nur ganz selten. »Tach, Mattes«, brummte Onkel Günther hin und wieder, wenn Mattes leise das Wohnzimmer betrat, aber er wandte den Kopf dabei nicht vom Fernsehbild.
    Seine Tante Thea kannte Mattes nur in geblümter Kittelschürze, in die ihre ausladende Körperfülle eingequetscht war. Vorne wurde der Kittel von einer Reihe kleiner, weißer Knöpfe gehalten, die es zu seiner Verwunderung schafften, den knapp sitzenden Stoff zusammenzuhalten, ohne einfach abgesprengt zu werden. An den Schulterlöchern kamen Tante Theas gewaltige, nackte Oberarme heraus, an deren Ende erstaunlich kleine Hände mit schmalen Fingern hingen. Die zarten Hände an der sonst eher in die Breite gehenden Tante Thea erstaunten Mattes immer wieder.
    Im Gegensatz zu Onkel Günther redete Tante Thea gerne und fast ununterbrochen. Aber weil sie aus für Mattes unerklärlichen Gründen nicht mit Onkel Günther und er nicht mit ihr redete, rollte ihre Kommunikation wie eine Lawine über wehrlose Tiere. Sie sprach mit ihrem Pflegehund, ihrem Wellensittich, den streunenden Katzen und sogar mit den Vögeln, die auf dem Balkon Brotkrumen pickten. Alle waren Mittelpunkt ihrer konzentrierten Aufmerksamkeit, wurden umsorgt und waren einer sprachlichen Dauerberieselung ausgesetzt.
    Sobald Mattes sich mit Günther und den drei Söhnen – den lebenden Beweisen, dass ohne Zweifel Mitte der 70er-Jahre schon an harmlosen Bürgern Klonexperimente durchgeführt wurden – im Wohnzimmer befand, hörte man Thea in auf die Sekunde genau getimten Abständen immer wieder »Jokki … Jokki … Jokki … Jokki …« säuseln. Das erste »Jokki« war stets der Startschuss zum internationalen »Wer-quatscht-den-Vogel-taub«-Wettbewerb, bei dem Tante Thea seit über dreißig Jahren den Titel erfolgreich verteidigte. Gut, sie war die einzige Teilnehmerin, aber sie perfektionierte ihre Strategie, das Tier verbal zu foltern, von Jahr zu Jahr. Einmal hatte sich Mattes unbemerkt in den Flur geschlichen, um nachzusehen, ob auch das Federtier im Laufe der Zeit eine eigene Strategie entwickelt hatte, sich dem Verbalterror zu entziehen. Ob Vögel sich die Ohren zuhalten konnten? Oder zwitscherten sie vielleicht nur, um sich mit selbst produziertem Lärm zur Wehr zu setzen? Auf jeden Fall stellte Mattes bei dem Versuch, dies herauszufinden, fest, dass Tante Thea nach exakt jedem zehnten »Jokki« ein elftes »Jokki« folgen ließ, das sich nicht an das Tier richtete, sondern zielgenau in Richtung Flur ausgestoßen wurde. Und nachdem sie sich mit dem Flurruf vergewissert hatte, dass ihre vier apathischen, männlichen Mitbewohner nicht gerade zufällig ihr Sofaterritorium verließen, kippte sie sich doch tatsächlich höchst heimlich und mehr als hastig einen ihrer selbst gebrannten Pflaumenschnäpse hinter die Binde. Als sie Mattes einmal dabei entdeckte, wie er sie beobachtete, kam ein kurzes »Das ist gut für die Stimmbänder« von ihr.
    Ihr Pudelrüde Arco war der erste Hund, mit dem Mattes näher zusammenkam. Er war eine der größten existierenden Gefahren des Universums. Noch vor King Kong
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