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Wie ich Rabbinerin wurde

Wie ich Rabbinerin wurde

Titel: Wie ich Rabbinerin wurde
Autoren: Elisa Klapheck
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Gemeinde lud Menschen jüdischer Herkunft ein, die eine Rolle im wirtschafts-, gesellschafts- und kulturpolitischen Leben spielen, und beleuchtete ihr Engagement in einem religiösen Licht. Im Frankfurter
Egalitären Minjan
bildete sich später ein ähnliches Forum. Im Rahmen von
Schiurim
diskutierten wir über allgemeine, gesellschaftspolitische Fragen. Dies verbanden wir immer mit der Lektüre vergleichbarer rabbinischer Auseinandersetzungen im Talmud. Dabei bildete sich unverhofft ein neuer Schwerpunkt heraus. Die wirtschaftlich versierten Mitglieder bemühten sich anhand von Rechtsvergleichen, politischer Ökonomieund Verhaltenstheorien um eine spezifisch jüdisch-religiöse Sicht auch auf die globale Wirtschaftsentwicklung. Im Zentrum standen Themen wie »Zinsen«, »Wert und Profit«, »Preispolitik« und »Anti-Krisenstrategien«. Für viele der aufgeworfenen Fragen finden sich aufschlussreiche Referenzen im Talmud. Die einstigen Rabbinen fragten, ob und wie sich die Gott-Mensch-Beziehung auch in der Wirtschaft verwirklichen lässt. Gewiss – die Gesellschaft von damals war eine andere als die heutige. Die rabbinischen Vorstellungen im Talmud greifen darum nur bedingt. Trotzdem beeindruckt, wie sie die säkulare Wirklichkeit – nämlich die Notwendigkeit einer funktionierenden Wirtschaft – nicht ablehnten. Auch Wirtschaftspolitik konnte nach rabbinischer Ansicht Gottesdienst sein, wenn sie der Verwirklichung der Gott-Mensch-Beziehung, widergespiegelt in einem sozialen Gemeinwesen, diente.
    Eine Folge hiervon war die Gründung eines neuen, mittlerweile viel beachteten Vereins, an der ich mitwirkte und der interessierten Juden und Nichtjuden offensteht:
Torat Hakalaka
– Verein zur Förderung angewandter, jüdischer Wirtschafts- und Sozialethik.
     
    Die jüdische Tradition unterscheidet zwischen
kadosch
und
chol
– zwischen heilig und profan.
Kadosch
ist der Schabbat,
Chol
ist der Wochentag. Heute ist es weniger eine Herausforderung, das bereits Heilige abermals zu heiligen, als das zu heiligende Potential im Profanen zu erkennen. Ich möchte nicht nur Rabbinerin für den Schabbat sein – ich möchte auch eine Rabbinerin für den
Chol
sein, eine Rabbinerin der säkularen Wirklichkeit.
    »Heilig« war schon in der Tora ein politischer Begriff und wurde in der jüdischen Tradition an Handlungen gebunden, mit denen sich das jüdische Volk insgesamt heiligte. Indem das Wort
kadosch
beispielsweise an soziales Verhalten und Gerechtigkeit geknüpft war, verwies es in die Mitte des Geschehens und ist auch heute nicht losgelöst vom Rest der Welt zu sehen. Es ist darum falsch, die jüdische Religion allein in den Schabbatund die Feiertage zu bannen. Überhaupt sollte man sich fragen, ob sich das Jüdische auf die religiöse Praxis und die Rituale beschränkt oder ob es sich nicht vielmehr in allen gesellschaftlichen Bereichen niederschlagen sollte. Ist es überhaupt richtig, Judentum als eine »Religion« – nach dem allgemeinen, christlich geprägten Verständnis des Wortes – zu präsentieren? Die Einteilung der Welt in eine »real existierende« gegenüber einer »geglaubten« Dimension löst bei Juden zumeist Unbehagen aus. Sie führen dies auf eine im Christentum verankerte Sicht zurück, die das Religiöse einer übernatürlichen, überweltlichen und übermateriellen Sphäre zuordnet. Im Ringen um einen gleichberechtigten Platz in Deutschland hat sich das Judentum ebenfalls als eine »Religion« darzustellen gelernt. Zu den Glaubensbekenntnissen der christlichen Konfessionen schien es nur ein weiteres, nämlich ein jüdisches Glaubensbekenntnis hinzuzufügen. Das Judentum sieht dabei so aus, als wäre es ein Glaube – so wie das Christentum, jedoch »minus Jesus«. Diese Verengung müsste das religiöse Judentum in Deutschland heute in der Beziehung zur säkularen Wirklichkeit überwinden lernen.
    Möglicherweise gilt dies aber auch für die anderen Religionen. Möglicherweise tritt der interreligiöse Dialog heute auf der Stelle, weil sich die Religionsvertreter zwar darin gegenseitig ihre jeweils religiöse Tradition erklären, was sicherlich zu mehr gegenseitigem Verständnis beiträgt. Aber sie tun den eigentlichen Schritt nicht, den sie tun müssten, damit Religionen in der heutigen Gesellschaft eine konstruktive, sinnstiftende, religiöspolitische Rolle spielen. Sie müssten sich auf die säkulare Wirklichkeit beziehen – mit den säkularen Gesellschaftskräften in ein religiös-säkulares
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