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Wie ich Rabbinerin wurde

Wie ich Rabbinerin wurde

Titel: Wie ich Rabbinerin wurde
Autoren: Elisa Klapheck
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wurde von Menschen   – Rabbinern – entwickelt. Sie diskutierten über sie, erkannten bestimmte Gesetze als nicht mehr adäquat an, korrigierten sie oder schufen neue Gesetze. Gewiss, sie alle waren von Gott inspiriert. Doch wie dessen Wille zu interpretieren war, darüber gingen, wie der Talmud immer wieder zugibt, die Meinungen weit auseinander.
    In der zweiten Hälfte des 20.   Jahrhunderts hat sich das religiöse Judentum in Europa nicht mehr inhaltlich auf die säkulare Wirklichkeit eingelassen. Die Schoa ist ein Grund. Totalitärer Kommunismus und Atheismus ein anderer. Zu den aufgezwungen äußeren Gründen kommt jedoch die innere Bereitschaft hinzu, sich auf das abgesonderte Terrain der religiösen Traditionspflege abdrängen zu lassen. Von dorther lässt sich kaumein echter Anspruch auf eine aktive Mitgestaltung der Gesellschaft erheben. Die institutionelle Trennung zwischen Staat und Kirche war eine Errungenschaft. Doch die Trennung zwischen Religion und Politik leitet fehl. Religion muss politisch sein, wenn sie sich selbst ernst nimmt, wie Politik umgekehrt immer auch eine religiöse Dimension enthält.
    Jüdisch gesehen umfasst der politische Anteil der religiösen Dimension – idealerweise – mehr als nur ganz allgemeine Maximen wie Gerechtigkeit, Solidarität oder Frieden. Er beurteilt in der konkreten Wirklichkeit des gesellschaftspolitischen, sozialen und wirtschaftlichen Lebens das Zusammenspiel der Details auf zwei Richtungen hin: heilig oder Unheil? An dieser Frage hält er den einzelnen Juden zu Handlungsentscheidungen an, die der Heiligung konkreter Lebenszusammenhänge dienen. Dabei berühren die großen politischen Fragen der Gegenwart – etwa die Entwicklung Europas und ihre jüngsten Krisen – auch den politischen Anteil der Religion. Sie fordern somit auch jeden in Europa lebenden Juden mit heraus.
    Doch ähnlich wie das Christentum stellt sich das religiöse Judentum heute zumeist losgelöst von der realen Wirklichkeit auf. Es ist ein Judentum, das allein am Schabbat stattfindet. Der Schabbat als der »heilige« Tag hat dabei für viele Juden kaum etwas mit den Wochentagen zu tun. Wer am Schabbat die Synagoge betritt, lässt zumeist die Welt hinter sich, wie auch der Schabbat mit dem Wochenbeginn mehr oder weniger bezugslos zurückbleibt. Rabbiner zu sein heißt nach dieser Auffassung: als Rabbiner für die losgelöste Zeitzone des Schabbat oder anderer jüdischer Feiertage zuständig zu sein. Gewiss   – Gottesdienste und Rituale enthalten und vermitteln in ihrer Symbolik, zum Teil nonverbal, uraltes menschheitliches Wissen darüber, was »heilig« ist. Aber wenn Heiligkeit in eine vom Leben weitgehend abgelöste Zone verbannt ist, implodiert sie, krankt an ihrer Bezugslosigkeit zur real erfahrenen Welt. Religiöses Judentum darf darum nicht nur etwas für den Schabbat sein. Es muss vielmehr in die Mitte der Gesellschaft hineinreichen – ohne orthodox und theokratisch zu werden. Es muss dieGesellschaft mitgestalten wollen und die säkulare Dimension der Religion wie auch umgekehrt: die religiöse Dimension in den gesellschaftlichen Prozessen erschließen.
    Gerade die im Talmud bezeugte Tradition des rabbinischen Judentums hätte viel einzubringen. Denn sie hat nicht die säkulare Wirklichkeit als schmutzige Niederung verdammt und sich ihr entzogen, sondern sich vielmehr bewusst in sie eingehakt. Sie hat einen religiösen Maßstab mit einem säkularen Realismus zu verbinden vermocht und damit auf allen Feldern des Zusammenlebens den Anspruch vertreten, konkret zur Verwirklichung einer besseren Welt beizutragen. Der Talmud diskutiert in den entsprechenden Traktaten – allein drei Traktate zum rabbinischen Verständnis von Politik, drei weitere zur Wirtschaft, sogar eine ganze Ordnung von Traktaten zur Landwirtschaft, die als Grundlage einer ökologischen Theologie gelesen werden kann – wie der religiöse Maßstab der Rabbinen auf eine säkulare Weise die Politik, die Wirtschaft und die sozialen Verhältnisse konkret und im Detail mitbestimmt. Diese Art von Debatte, das heißt von religiöser Annäherung an die säkulare Wirklichkeit, ohne in eine theokratische Falle zu gehen, wünsche ich mir heute.
    Schnittstellen, an denen sich die jüdische Religion heute erneut auf die säkulare Wirklichkeit einlassen kann, habe ich bereits in Amsterdam im Rahmen eines sogenannten »säkularen
Mincha
« – eines »säkularen Nachmittagsgottesdienstes« – aufzuzeigen versucht. Die
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