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Wie ich Rabbinerin wurde

Wie ich Rabbinerin wurde

Titel: Wie ich Rabbinerin wurde
Autoren: Elisa Klapheck
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soziale Mindestgarantien – sind von säkularen Bewegungen erkämpft worden. Ich kann die Feindschaft säkular eingestellter Menschen gegen die Religion verstehen, da gerade die offizielle, institutionalisierte Religion mit ihrem Klerus diese Errungenschaften immer wieder zu verhindern versuchte. Doch als Forderungen sind diese Errungenschaften ursprünglich in der Religion, gerade auch in der jüdischen Religion angelegt. Aber leider haben die institutionalisierten Religionen sie nur als eine Ahnung gewahrt und ansonsten in ihrer Geschichte oftmals eher unterdrückt als verwirklicht. Berechtigterweise haben sie darum viel von ihrer Glaubwürdigkeit verloren.
    Aber sind die Religionen, weil sie in der Vergangenheit nicht ausreichend für die Menschenrechte eingetreten sind, grundsätzlich obsolet geworden? Haben nicht alle Menschen eine religiöse Dimension? Ist diese religiöse Dimension nicht dieVoraussetzung, um über die Grenzen des Individuums hinaus größere Gemeinschaften zu bilden? Beginnt darum nicht alles politische Denken in der religiösen Dimension, zumal es in der Politik immer um die Gemeinschaft geht? Begründen sich nicht alle politischen Emanzipationen in dieser religiösen Dimension – und entspringen ihr nicht auch die politischen Parameter, an denen sich unsere heutige Gesellschaft bemisst – die Gleichheit vor dem Gesetz, der soziale Zusammenhalt, das Recht sich zu verwirklichen? Liegt nicht – auch individuell gesehen – in der religiösen Dimension die eigentliche Legitimation von Freiheit? Kennt nicht jeder Mensch das Gefühl von Bestimmung? Bezieht sich das Recht auf Freiheit nicht genau auf diese Bestimmung, die aber nur in der religiösen Dimension Sinn macht und weniger ein Recht auf Freiheit verlangt als eine
Pflicht zur Freiheit
ist?
    Eine, auf eine bessere Zukunft hin ausgerichtete Politik, bedarf aus meiner Sicht immer eines teleologischen Horizontes – und bemisst sich deshalb immer auch an einer religiösen Dimension. Ihre Verwirklichung geschieht jedoch in einer säkularen Wirklichkeit. All die Fragen, die sich mir gerade in meiner Zeit in den Niederlanden immer drängender stellten, forderten mich darum heraus, das Wort »säkular« neu zu bestimmen, ohne es gegen das Wort »religiös« auszuspielen. Und dies ist meine neu gewonnene Sicht:
    »Säkular« bedeutet nicht mehr und nicht weniger als »weltlich«. Wer säkular denkt, geht davon aus, dass nicht Gott, sondern die Menschen die religiöse Dimension verwirklichen, indem sie selbst ihre Gesellschaftsordnung und die dazugehörigen Gesetze schaffen. Das Gegenteil von »säkular« ist darum nicht »religiös«, sondern – »theokratisch«. Ein säkulares System erkennt an, dass Entscheidungen immer nur von fehlbaren Menschen getroffen werden und darum hinterfragbar bleiben. Jeder, der die Demokratie aus den Grundlagen der Religion begründet, ist »religiös-säkular«. Eine Theokratie will hingegen eine unhinterfragbare Gesellschaftsordnung durchsetzen, die von Gott angeblich nur so und nicht anders entworfen ist. Siefordert von den Menschen, sich in diese Ordnung einzufügen und dem unfehlbaren Willen Gottes nachzukommen. An der Macht sind Stellvertreter Gottes, deren Verantwortung sich allein daran bemisst, in welchem Maße sie den Willen Gottes durchsetzen. Ein fundamentalistisches Verständnis von Religion will entsprechend eine Theokratie. Man tut religiös motivierten Kräften, die für Menschenrechte und Demokratie eintreten, Unrecht, wenn man sie in dieselbe Ecke wie die Theokraten stellt. Und man verkennt dabei ein religiös-politisches Potential, das sich nur in einem säkularen System verwirklichen lässt.
    Ich bin also eine religiös-säkulare Rabbinerin, die sich für eine jüdische Erneuerung einsetzt, indem sie bewusst das Attribut »säkular« für sich reklamiert. Ich will damit zugleich die Passivität derjenigen Juden herausfordern, die fataler Weise glauben, sich von der religiösen Dimension verabschieden zu können, damit aber der zunehmenden Sinnentleerung der Gesellschaft zusehen und zugleich das religiöse Feld einem orthodox-theokratisch eingestellten Rabbinat überlassen. Ich weiß mich mit meiner religiös-säkularen Weltanschauung in bester Tradition mit meinen rabbinischen Vorgängern. Die Feststellung mag erstaunen: Das rabbinische Judentum – vor allem der Talmud – ist eine säkular ausgerichtete Religion. Nicht Gott schrieb im Talmud die
Halacha
, die jüdischen Gesetze, sondern sie
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