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Wie ich Rabbinerin wurde

Wie ich Rabbinerin wurde

Titel: Wie ich Rabbinerin wurde
Autoren: Elisa Klapheck
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Sinne, auch nicht unbedingt in einem »ethnischen«. Sie haben durchaus tiefere, menschheitliche Werte, die sie bewusst aus der jüdischen Religion schöpfen, der sie aber als »Religion« keine autoritative Anerkennung mehr zumessen. Wie muss sich die jüdische Tradition heute aufstellen, wie muss sie sich erneuern, damit ihr Erbe weiterlebt – auch wenn es sich nicht mehr nur im Rahmen der tradierten Religion darstellt?
    In jedem europäischen Land steht das Attribut »säkular« in einem anderen historischen Kontext. Gerade in diesem Punkt erwies sich der Vergleich zwischen den Niederlanden und Deutschland für mich als unschätzbar: in Amsterdam musste ich sehr viel stärker mit der Erkenntnis umzugehen lernen, wie tief die Spaltung zwischen »religiösen« und »säkularen« Juden wirkt. In Deutschland beginnt das moderne Judentum bei Moses Mendelssohn, der das Primat der Vernunft in der jüdischen Religion selbst angelegt sah und deshalb zu keiner rigorosenAufspaltung zwischen »religiös« und »säkular« drängte. In den Niederlanden hingegen beginnt das moderne Judentum schon bei Spinoza und erzeugte einen scheinbar unüberbrückbaren Graben. Diesem begegnete ich in dem wiederkehrenden Angstreflex unter »säkularen« Juden, als »religiös« abgestempelt zu werden. So gehörte ich beispielsweise einer Kommission an, die bei
Beit Ha’Chidush
die neuen Gemeindemitglieder aufnahm. Eines der Ziele war die »De-Assimilierung«. Im vergangenen Jahrhundert hatten sich unzählige niederländische Juden von der jüdischen Religion abgewandt und nicht mehr in jüdischen Kontexten gelebt. Ihren Kindern, Enkeln – bisweilen auch Urenkeln – wollte
Beit Ha’Chidush
die Rückkehr ins Judentum ermöglichen. Wie sehr sich die Betroffenen auch wünschten, wieder »dazuzugehören« und wie niedrig hierfür die religiösen Kriterien bei
Beit Ha’Chidush
gestellt waren, bemerkte ich doch immer wieder den inneren Widerstand neuer Mitglieder gegen die Aussicht, Mitglied einer »Religionsgemeinschaft« – einer
kerkgenootschap
– zu werden. Gewiss – das Wissen um die
Schoa
verstärkte die Angst, als »Jude« in einer Liste geführt zu werden. Mit der Zeit lernte ich jedoch, das Argument der
Schoa
immer mehr auch als eine Ausrede oder jedenfalls nicht als die einzige Ursache für eine tief sitzende Abwehr gegenüber jedwedem jüdischen Religionsbewusstsein wahrzunehmen. Wie oft wurde ich bei Aufnahmegesprächen mit neuen Mitgliedern mit einem ambivalenten Gesichtsausdruck konfrontiert und gefragt: »Muss ich jetzt auch an Gott glauben?«
    Spinoza hatte im
Theologisch-Politischen Traktat
den Anspruch der Religionen, eine eigenständige, politische Kraft zu sein, eine Absage erteilt, deren Absolutheit für die jüdischen Anhänger der Aufklärung kaum überwindbar scheint. Eine Identifikation mit dem Judentum wirkt darum für viele wie ein Bekenntnis zu rückständigen Vorstellungen von rabbinischer Theokratie. Der Graben zieht sich jedoch nicht nur durch die jüdische, sondern durch die niederländische Gesellschaft insgesamt. Gegenüber großen Teilen in der Bevölkerung, die antiklerikal eingestellt sind, gibt es einen sich mitten durch dasLand ziehenden »Bibelgürtel« mit einem großen, wiederum radikal-religiös eingestellten Bevölkerungsanteil. Die Spaltung wird vertieft durch einen neuen, von Protagonisten wie Richard Dawkins aggressiv vertretenen Atheismus, der sich auf Evolution und Wissenschaft beruft. Meinem Eindruck nach trifft er in den Niederlanden auf ein empfänglicheres Publikum als in Deutschland. Überhaupt erscheint mir die niederländische Gesellschaft seit der Konfrontation mit dem radikalen Islam in wichtigen Fragen viel polarisierter als die deutsche. Es wird eine heftige Debatte über Wert und Bedeutung von Religion geführt, in der theokratisch eingestellte Christen, aber auch demokratisch eingestellte Muslime oftmals viel prononciertere Standpunkte einnehmen, als ich sie aus Deutschland kenne, wo nicht-religiös eingestellte Menschen insgesamt mehr Toleranz gegenüber der religiösen Dimension des Lebens zeigen.
    Dies alles forderte mich zu einem neuen Lernprozess heraus. Es war ja nicht so, dass ich ohne Weiteres zu den »Religiösen« gehörte. Auch meine Religiosität verlangte ein »säkulares« Umfeld. Die großen Errungenschaften, von denen ich heute profitiere – die Freiheit des Denkens, die demokratische Gestaltung der westlichen Gesellschaft, die Gleichberechtigung der Frau,
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